Wo bleibt Gott, und was ist Glaube?
Fast ebenso alt wie der Rückgang der Mitgliederzahlen der christlichen Kirchen ist die Sprachlosigkeit ihrer Prediger. Gedanken zum Ort Gottes in einer Zeit tiefer Glaubenskrise
Sebastian Kleinschmidt
23.12.2023
Wo sind wir, wenn wir Musik hören? hat der Philosoph Peter Sloterdijk einmal gefragt. Er meinte nicht, im Konzertsaal oder in der Kirche. Er meinte, wo wir geistig sind.
Ehe wir das Rätsel auf die Religion beziehen und überlegen, wo wir sind, wenn wir von Gott reden oder hören, möchte ich es auf Johann Sebastian Bach anwenden. Wenn wir Oratorien, Passionen und Kantaten von Bach hören – dem Komponisten, den man den fünften Evangelisten nennt und dessen Klangwelt der schlagendste Gottesbeweis ist – und uns fragen, wo wir sind, wenn wir uns ihnen hingeben, bin ich versucht zu antworten: Im Himmel – mit Gedanken an die Erde. Auf Erden – mit Gedanken an den Himmel. In der Ewigkeit – mit Gedanken an das Jetzt. Im Jetzt – mit Gedanken an die Ewigkeit. In Gottes Brust – mit Gedanken an die Menschen. In der Menschen Brust – mit Gedanken an Gott.
Bis in solche Höhen weitet sich der Raum, bis in solche Tiefen dehnt sich die Zeit, wenn wir geistliche Musik von Bach hören. Die Welt, die in ihr aufsteigt und ihren Glanz verströmt, ist eine zweite, nichtreale Welt, ein Universum, das nur in unsrer Vorstellung besteht.
So viel zu Bach, der fast alle seiner Werke mit „Soli Deo Gloria“ unterschrieb. Und nun zu Gott. Wo sind wir, wenn wir Ihn vernehmen; wo, wenn wir auf Seine Stimme hören? Die Antwort lautet: gleichfalls in einer vorgestellten Welt, die jedoch vom religiösen Menschen als reale Welt geglaubt und an geweihten Orten in Kult, Gebet und Liturgie ehrfurchtsvoll vergegenwärtigt wird.
Doch wie dem Gott begegnen, wie von ihm sprechen? Dem Höchsten, den niemand sehen kann und niemand sehen darf und niemand je gesehen hat? Auch Moses nicht, auch Jesaja nicht. Moses vernahm nur Gottes Stimme, Jesaja sah nur Gottes Füße. Der auferstandene Christus sagt zu Thomas, dem zweifelnden Jünger: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“
Auf dreierlei Weise kann sich der Mensch auf Gott beziehen. In Gestalt seiner Realitätsbejahung, in Gestalt seiner Realitätsverneinung, im Exempel seiner Realitätsvermutung. Als These oder Antithese oder Hypothese. Im Modus des „Er ist“ oder des „Er ist nicht“ oder des „Als ob er ist“. Im Zustand des Glaubens, im Zustand des Unglaubens, im Status der Annahme.
Wahrhaftig existieren kann ein lebendiger Gott nur im Glauben und einem dadurch ermöglichten Raum der Imagination. Was aber, wenn der Glaube verblasst, wenn die Quelle religiöser Vorstellungskraft versiegt? Dann droht auch der Gott verloren zu gehen.
Prekäre Glaubensstärke
Die heutige Situation besonders in der evangelischen Kirche ist in punkto Glaubensstärke augenscheinlich prekär. Fast scheint es so, als wüsste der moderne, aufgeklärte, mehr und mehr säkularisierte Mensch mit dem Gottesbild der Christen nichts mehr anzufangen. Wie sonst sollte man sich die massenhaften Austritte aus der altehrwürdigen Institution erklären? Entweder brauchen die Menschen Gott nicht mehr oder sie wenden sich von der praktizierten Art der Gottesrede ab.
Und so stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, warum der Mensch überhaupt der Gottesrede bedarf. Man macht sich die Sache nicht zu leicht, wenn man sagt, dass die Selbstreflexion des Menschen hinsichtlich seiner Stellung in der Welt nicht nur erfordert, sich im Spiegel der Tiere, das heißt im Spiegel der Wesen unter ihm zu betrachten, sondern auch im Spiegel des Wesens über ihm.
Dazu gehört, dass der Mensch anthropologisch so angelegt ist, dass er in Sachen Orientierung nicht allein aus seinem Wissen schöpfen kann. Denn er bewegt sich immer in zwei Welten, der real gegebenen und der vorgestellten. Das Wissen aber bezieht sich auf die wahrgenommene reale Welt, nicht auf die unsichtbare fiktionale. In deren Räumen dominiert der Glaube.
Kooperation mit Kunst und Poesie
Die Glaubenswelt der Religion ist mit der Aufklärung in die Defensive geraten. Durch ein energisches Korrelieren von Wissen und Glauben bekam das Wissen die besseren Karten. Glaube erschien plötzlich als defizitäre Erkenntnis. Es hat lange gedauert, bis es den Theologen dämmerte, dass man die Religion in eine Sackgasse bugsiert, wenn man sie in eine falsche kognitive Rivalität zur Wissenschaft stellt. In Wahrheit konkurriert Religion nicht mit Wissenschaft, sondern kooperiert mit Kunst und Poesie. Es gilt zu begreifen, dass das religiöse Bewusstsein nicht die wirkliche, sondern eine vorgestellte Welt bezeugt. Und dass die vorgestellte Welt orientierende Kraft hat für die wirkliche Welt. Dass sie Freiräume für Geist und Herz erschafft, die sich ohne „Illusion“ nicht ergeben.
Gott wird durch Argumente rationalen Wissens, durch Materialismus und historisches Bewusstsein in immer größere Ferne gerückt. Er kann uns nur durch eine wechselseitige Befruchtung von religiöser und ästhetischer Einbildungskraft wieder näherkommen. Wir müssen das „Unirdische“ der Religion von der Pflicht irdischer Beweise entlasten und auf diese Weise ernstmachen mit dem Gedanken, dass die Religion nicht die Kontrahentin der Wissenschaft, sondern die Schwester der Poesie ist. Der Streit zwischen Glauben und Wissen führt zu nichts. Allein das Erkennen der Verwandtschaft von Religion und Kunst weitet das Blickfeld.
Warum die Welt des Glaubens nicht im Konjunktiv betrachten? Als ob es Gott gäbe, als ob es Engel, Teufel und Dämonen gäbe, die Unsterblichkeit, die Auferstehung von den Toten, den Fluch und den Segen, das Gericht, die Gnade, die Erlösung und die Vergebung. Das gilt auch für den Gedanken der Geschöpflichkeit aller irdischen Wesen. Es mag ja sein, dass Gott eine Idee des Menschen ist. Aber zu dieser Idee gehört es, dass nicht Gott eine Idee des Menschen, sondern der Mensch eine Idee Gottes ist. Gerade durch diesen Blickwechsel vermag die Religion Sinn und Orientierung zu geben. Und Orientierung braucht der Mensch, auch wenn er Agnostiker oder Atheist ist. Er ist das einzige Geschöpf auf Erden, das sie braucht. Die Tiere haben den Instinkt. Sie wissen nicht, dass sie nichts wissen. Der Mensch, das sokratische Tier, weiß, dass er nichts weiß. Und über allem – so glauben die einen und bestreiten die andern – thront einer, der weiß, dass er weiß.
Klarheit über die Winkel des Herzens
Von diesem Wissen machen wir uns keine Begriffe, und können es nicht, da es unsere Geisteskapazität auf unvorstellbare Weise übersteigt. Was wir aber glauben, ist, dass das Wissen Gottes nicht zuletzt ein Wissen über uns ist. Und das bis hinein in die verborgensten Ecken unseres Innern. „Herr, der du aller Herzen kennst“ (Apg 1,24) lautet eine der Hauptstellen für den theologischen Topos der Kardiognosie, der Herzenserkenntnis Gottes. Gemeint ist, wie der Neutestamentler Klaus Berger kommentiert, „dass Gott lückenlose Klarheit über jeden Winkel des Herzens besitzt, denn er ist Schöpfer und Richter“. Dieses „denn du allein kennst das Herz aller Menschenkinder“ (1 Kön 8,39) ist eine der bedeutsamsten Aussagen, die der Mensch je über Gott gemacht hat. Und nicht nur im Indikativ, noch im Konjunktiv, im Als ob, hat sie Wahrheit und Kraft.
Wenn wir von der Geschwisterlichkeit von Religion und Poesie sprechen, braucht es Beispiele, am besten von heute. Der Dichter Christian Lehnert aus Leipzig ist ein solches Beispiel. Das für ihn entscheidende Bindeglied zwischen beiden Reichen ist die Epiphanie. Die eine widerfährt uns unirdisch, die andere irdisch. Augenblickshaft und flüchtig sind sie beide. Mit Begriffskonstruktionen ist hier nichts zu gewinnen, nur mit Glauben an das Kommen der Erscheinung. Der Dichter steht im Warten und Erwarten. Er betreut die Geduld. Er verrät nicht den Glauben an das Wissen. Er ist sicher: Schönheit und Güte des Menschen kommen von dem, was er glaubt, nicht von dem, was er weiß.
Was aber glauben wir? Das ist eine der großen Fragen, die Lehnerts Werk durchziehen. Doch ist es bei ihm weniger eine Frage des Zweifels als eine des Offenhaltens. Offenhalten, damit etwas einströmen kann. Alles Verweisen auf das Religiöse geschieht lautlos, wie im Verborgenen, in äußerster Diskretion. Die Poesie unterwirft sich nicht. Gott ist ihr ein unbewohnter Name, „ein reines, leeres Feld“. An einer Stelle heißt es: „Was ich glaube, ist ganz unverstanden.“ Im Gedichtband „Windzüge“ findet sich der Zweizeiler: „Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riß, ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß.“
Lehnert ist einer, der erst spät zur Religion fand. Er ist gewissermaßen als Erwachsener in sie eingewandert. Einwanderer sind immer auch Auswanderer. Sie verlassen ihr Herkunftsland, weil ihnen dort etwas fehlt.
Was aber fehlt dem, dessen geistige Existenz ohne Gottesbezug ist? Lehnert würde sagen: Es fehlt ihm der Sinn dafür, dass etwas fehlt. Am Ende ist es ein Fehlen am Wort, dem religiösen Wort, dem reinigenden, heilenden, tröstenden, fragenden, verheißenden, verwandelnden Wort, an einem Wort der Zusage, einem Wort, das selig macht und nicht aus Menschenmund ist.
Zurück zum kraftvollen Wort
Zu solchem Wort muss die Kirche zurückfinden, wenn sie die Krise überwinden will, in der sie steckt, eine Krise, die durch weitere Politisierung und noch größere Nähe zum Zeitgeist nicht zu überwinden ist. Wenn es die Prediger nicht schaffen, aus tiefentheologischer Sprachlosigkeit und uninspirierter Gottesrede herauszufinden, helfen nur Poeten. Der Schweizer Pfarrer Kurt Marti sagte einmal: „Vielleicht hält Gott sich einige Dichter, damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhandengekommen ist.“
Vergessen wir nicht: Die Sprache des Glaubens ist ein großes Geschenk der Religion. Sie schafft Heimat in einer Welt, in der wir Gott die Ehre geben. Diese Welt reicht weit über das Ich des einzelnen Menschen und seinen Horizont hinaus. Religion ist außerweltliche Beheimatung des von innerweltlicher Unruhe getriebenen menschlichen Geistes. Sie kündet, um mit Blaise Pascal zu sprechen, vom „Glück des Menschen mit Gott“ und vom „Elend des Menschen ohne Gott“.
Für Ohren, denen das wie aus der Zeit gefallen klingt, sei daran erinnert, dass es eine Ehre des Glaubens ist, unzeitgemäß zu sein.
Dr. Sebastian Kleinschmidt ist Essayist und Verfasser zahlreicher Schriften zu Literatur, Philosophie und Religion. Er war u.a. von 1991 bis 2013 Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ und ist Mitherausgeber der in der Evangelischen Verlagsanstalt erscheinenden Reihe „Georgiana. Neue theologische Perspektiven“. Zuletzt erschienen „Kleine Theologie des Als ob“ (Claudius Verlag) und „Lob der Autorität“ (Matthes & Seitz, beide 2023).
www.eva-leipzig.de
Dieser Artikel ist ein Beitrag aus der aktuellen Preussischen Allgemeinden Zeitung(PAZ). Weihnachtsausgabe 2023 . Der Autor ist assoziiert mit der evangelischen St.Georgsbruderschaft in Erfurt (Bonhoefferhaus).
Kommentare
sitra achra am 29.12.23, 13:20 Uhr
Das dogmenhermeneutische Modell des Christentums ist in seiner Komplexität und Universalität mit kosmischem Anspruch ein bemerkenswertes und bewunderungswürdiges kulturhistorisches Erbe…
Blog Michael Wohlfarth e-mail Adresse: Fam.Wohlfarth@t-online.de
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Titel-Bild Anthony Lowe Altenburg/Th.

Fotografie:Edgar Nönnig, Thonhausen