GEBROCHEN DEUTSCH
Gedicht in 13 Versen
Vers 1
Neulich schrieb mir eine Kollegin im Vorlesen, sie möchte auch Schriftsteller werden.
Wir müssen hier nicht auf Endungen achten. Sie ist aus Thüringen. Weimar. Das sagt alles.
Also sie schrieb, dass sie noch viel vor hat. Sie ist gut im Organisieren.
Nur der schläfrige Verleger reagiert nicht.
Sie möchte ihr Erstlingswerk in die Homepage des Verlages bringen. Sie hat gute Leute. Aus Köln jetzt. Wo der Dom ist.
Da ist alles aufstrebend – gewesen.
Mich ermuntert das – so lange nichts Besonderes passiert – nach der Lesung in Leipzig – an diesem deutsch-deutschen Roman weiterzuschreiben, wo keiner weiß, wohin er uns führt. Amerika oder Russland?
Vers 2
Auszug aus einem Brief:
„… ach, Dostojewski, jetzt machen sie dich auch noch schlecht: Gute Literatur ? – ja, aber deine Weisheiten?
Wie bei deinem Bruder Tolstoi.
Behalte sie doch lieber für dich.
Inzwischen gibt es Einiges, wo über dich so gesprochen wird.
In angesehenen Tageszeitungen, Kultur-Kolumnen aller Art.
Ich möchte keine Namen nennen.
Du weißt schon.
ACH DOSTOJEWSKI, komm heraus aus deiner Hütte in Tirol.
Oder sitzt du schon auf dem Felsenvorsprung am Berg und wartest auf den Bergrettungsdienst.
Auf den Heli, wie die jungen Sportler sagen.
Die Eventisten.
Also, besser bleibe darinnen.
In deiner Hütte, Höhle oder wo
immer.“
Vers 3
Es ist schon ein Problem.
Das Fernsehen taugt nicht zur
Unterhaltung.
Die Krimis werden immer ernster.
Oder lustiger,
die Toten sind nicht mehr tot,
sondern Material für den Slapstik.
Vieles wirkt kindlich wie
CHRISTINE SUCHT DEN
LIEBEN GOTT.
Ohne Gott.
Immerzu wird mir erklärt, warum es so kommen muß.
Das Schreckliche.
Alles ist Zufall.
Nicht einmal mehr peinlich.
Jeder kann es sein.
Jede kann es sein.
Ist ja wahr.
Wo ist das alles nur abgeschrieben?
Aus dem Internet?
„Jetzt wollen wir dem Feminismus frönen“, rufen sie.
„Es gibt keine Schuldigen mehr!“
Es gibt nur eine Friedhofskapelle, wo die Toten aufgehoben werden, in der das Vaterunser nicht gesprochen wird, sondern das entscheidende Gespräch „zwischen den entscheidenden Parteien.“
„Aus denen die Komplizen kommen.“
Es ist alles nur ein Unfall gewesen.
Tragisch wie bei Kleist:
die Schuldig-Unschuldigen.
„Ach ja, Dostojewski, wir sind
alles Kinder ohne Vater.“
„Eine Spur von Geschlechterkampf vielleicht?“
„Bitt‘ schön, der Herr.“
„Bitt‘ schön, die Dame!“
Oder umgekehrt.
Das Gebot: DU SOLLST NICHT TÖETEN wird illustriert, indem die Polizei sich darum kümmert.
„Das kann so nicht weitergehen, Dostojewski!…..“
Vers 4
Wo bist du?
Im Schatten des Abends?
Wer bist du, in der Morgensonne?
Du bist da, wo wir alle sind.
Im Gewühl der Großstadt.
Versteckst du dich?
Bist du nackt?
Heißt du auch Adam.
Wie wir alle.
Du ziehst von einem Ort zum anderen.
Von einer Kraft zur anderen
im Tal?
Von einem Event zum anderen.
Von einem Diskurs zum anderen.
Mit fadem Beigeschmack.
Vers 5
Beschreibung eines Glasfensters
in einer Kirche am Markt:
Rückbesinnung
Wie sie da herumsitzen
um das Kind Jesus.
Und er belehrt sie.
Aber werden sie klüger?
Einige wenigstens?
Sie sehen gut aus.
Ein Nazarener hat es entworfen –
das Bild –
und ein Kunstschmied in Mosaike zusammengefaßt.
Nach Norden gerichtet.
Wenig Sonne.
Aber genügend Altenburger Tag,
wo Skat gespielt wird
zum Feierabend,
weil es hier erfunden wurde.
Wie vieles andere.
Auch Brockhaus ein Altenburger.
Das Gericht ist nach der Wiedervereinigung wieder hier.
Das Spielgericht: SKAT.
Und die guten Lehrer sollen von da kommen, sagt der Alte Fritz,
wenn es nicht so gut ging
mit seinen Unteroffizieren
mit einem Arm oder Bein
und sie die Kinder geprügelt haben,
damit es gute Preußen werden.
Nur Prügeln geht nicht.
Vers 6
Viele rufen: „Hosianna,
Hosianna, gelobt sei, der kommt
im Namen des Herrn!“
Und: „Kreuzige ihn!“
Nicht auf meinem Kirchenfenster in einer immer kleiner werdenden Mittelstadt in Ostthüringen.
Chor: „Durch die Abwanderung nach Westen und Süden.
Weil Uran noch im Boden ist.
Aber nicht gefördert wird
der Vergiftung wegen.
Durch die Russen nicht
und durch die Amerikaner nicht.
Durch niemanden.“
Gegenchor: „Und die Braunkohle ist auch nicht Ebbe.
Sondern ziemlich weit oben.
Aber sehr eingeschränkt im
dezidierten Abbau
in unserer Gesellschaft,
die wir 1989 errungen haben .“
Einzelner: „Ich auch. Zu Recht.
Und ohne Blutvergießen.
Nicht wie heute in der Ukraine.
Die ist uns sehr nah.“
Nicht auf meinem Kirchenfenster rufen sie: „Hosianna, Hosianna,
gelobt sei, der da kommt
im Namen des Herrn!“
Und drei Tage später: „Kreuzige ihn!“
Nein, es wird gesungen.
Immer singen am Abend die Chöre von den „lieb Engelein“.
Sie singen die Passion Christi
nach dem Evangelisten Johannes von Johann Sebastian Bach.
Wenn du in dieser Kirche sitzt am Abend und das bunte Glas leuchtet im Licht der untergehenden Sonne, oder später für sich ohne Tag, dunkel in der Nacht.
Und ich höre sie singen: HOSIANNA und wenn die drei Tage um sind: KREUZIGE.
Gibt es auch Bilder von d i e s e m Geschrei?
Von diesem Volk?
Aufgerührt von diesen Gelehrten auf meinem Fenster: Pharisäer und Schriftgelehrte, Sadduzäer, Griechen, Lateiner und Orthodoxe.
Die Kopten und Äthiopier, Kämmerer und Oligarchen, Russen und Syrer, Aramäer, Katholiken und Lutheraner. CALVINISTEN.
ÄGYPTER.
Von Nazarenern gemalt, Rudolph Schäfer,
Schnorr von Carolsfeld, von Schmieden
um die Jahrhundertwende vor dem 1. Weltkrieg
geschweißt und gelötet zum TRANSPARENT ?
So wie Lehren durch Lernen und Lernen durch Lehren.
Der 12-jährige Jesus im Tempel.
Ein Konfirmandenbild.
Ein Pädagogenbild.
Universitas.
Pestalozzi und Fröbel.
Vielleicht.
Ich weiß es nicht.
Ich bin kein Forscher.
Halt, aber ganz sicher in Rom.
Und überall, wo die Hochkirche zu Hause ist.
Die Renaissance, das Christliche Abendland vor seinem Untergang, die Christliche Kunst, die den Papst gerettet hat und Rom.
Das barocke Europa.
In jeder Predigt, die malen kann zum Palmsonntag.
In allen christlichen Kirchen.
Vers 7
Die Kinder waren nicht Jesus
Wir haben sie gespielt diese Szenen.
Die Kinder waren nicht Jesus.
Aber Palmen, die sich wiegten im Wind,
als Jesus kam und die Berge tanzten und alle riefen HOSIANNA, weil er den Tod besiegt
und Lazarus ruft in seinen Gewändern.
Und die Schriftgelehrten sich beratschlagen,
was sie machen sollen bei so viel Begeisterung.
„Wie ungut ist das!“ haben sie untereinander gesagt –
und sind beiseite gestanden.
Das haben wir gespielt.
Vers 8
Wir waren gerade in den weißen Städten
ohne die spitzen Hexenhausdächer nördlich der Alpen,
damit der Schnee rutschen kann.
Sie haben alle den Stein berührt, die Millionen und Abermillionen, so dass er glatt ist.
Alle sind sie KREUZFAHRER und stellen sich an,
um das Heilige Grab zu berühren, zu küssen, enthusiastisch. Welche Liebe ist in den Frauen. Und wie gefährlich
ist Religion, sagen die Protestanten.
Sonst müßten sie ja auch Knüppel in die Hand nehmen oder Knuten, um einzupeitschen, oder auszupeitschen.
Wer soll das regulieren.
Vers 9
Comenius
du wurdest die Stationen geführt.
Du vertraust auf IHN.
Du hast dich ABM schreiben lassen und ziehst los.
Pilgrim.
Es wird Zeit, dass wir das würdigen. –
Suchst du ein Mädchen?
Wie im 19. Jahrhundert die Romantiker?
Bist du schwul?
Oder lebst du deine Kulturpubertät aus,
die es seit Sartre nicht mehr geben soll,
weil sie eine bürgerliche Krankheit ist: JUGEND.
Wir sind gespannt. Ich bin mehr als gespannt.
Ich kann es kaum erwarten.
Aber da sehe ich dich auch schon den Berg hinaufkommen
in Thüringen. Wie lange ist das her.
Und vor dir liegt ausgebreitet das Tal.
Dort ist die Kirche, in der du Dienst tun wirst
und die Steine anpredigen, damit sie lebendige Steine werden
zur Auferbauung der Gemeinde.
Es ist die Barmherzigkeit, die über dich kommt
beim Anblick des Dorfes.
Du siehst mit den Augen des Christus. Im Rennen hinunter den Berg.
Das Gehöft neben der Kirche ist nicht der Pfarrhof,
das Haus auf gleicher Höhe nicht das Pfarrhaus,
sondern es sind Bauern und Arbeiter, die hier wohnen.
Weil du vom Dorf bist, hat du keine Scheu,
einfach in den Hof zu gehen und zu fragen.
Was sagen sie dir, als du fragst?
Nichts?
Doch.
Nicht Weihnachten ist das schönste und öfter.
Sondern der Dank.
Der ERNTEDANK.
Vers 10
Das wissen sie nicht mehr
wem der Dank gebührt.
In der Stadt.
Oder?
Es kann nur der Herzog sein, dem gehuldigt wird,
wenn die Bauern reiten in ihren eng anliegenden Kostümen.
Und erst die Bäuerinnen von damals.
Sie winken.
Natürlich winken sie dem Herzog, dem Publikum jetzt.
Sie waren stolz, sie brauchten den Herzog
und umgekehrt.
Sie wussten, wem Ehre gebührt und die Steuer.
Und sie waren abhängig.
Aber nicht absolut.
Sie waren schlau.
Schlitzohrig,
weil sie das wussten.
Und hatten
ein gesundes Misstrauen.
Wer hat das heute noch.
DAS BAUERNREITEN.
DER ERNTEDANK.
DIE HULDIGUNG auf Augenhöhe.
Die Untertanen auf dem Pferd.
Vers 11
Die Große Stadt
wo sie herumsitzen und streiten
wo sie herumgehen, die Peripathetiker und fuchteln
mit ihren Händen und spielen mit ihren Füßen
oder dem Ball den entscheidenden Drive geben für das Tor.
Wenn sie treffen.
Das ist übrigens immer noch das Beste.
Suchen sie die Wahrheit.
Einer bestreitet sie.
Weil sie stört zu leben, angeblich.
Zur Wahrheit braucht es die Liebe.
Bekommen wir sie?
Nein, wir müssen darum bitten, uns ganz klein machen.
In Demut.
Und nicht nur so tun in unserem Großen Spiel.
Vers 12
Berlin
Ah, endlich gefunden
das Buch der Lieder mit Genricha Geine
der auf dem Stein sitzt am Weinberg
wo kein Wein wächst.
Der bei Gorki sitzt
gedoubelt,
weil der etwas von ihm halten möchte
auch weiterhin?
Aber jetzt endlich in die Galerie
in die Rumpelkammer der Geschichten in Kunst.
Da ist der Schraubenkönig
ha ha ha
er macht es möglich.
Was ist da?
Das Jüngste Gericht.
Es mutet russisch an.
Blockwartmäßig und wie eine Festung
im amerikanischen Westen,
als dort die Indios noch zu Pferde saßen,
um es dem weißen Mann zu zeigen.
Nein, wie eine russische Holzkirche.
Du musst nur nahe genug sein
dem Material.
Aber die Marien, die lieblichen
die Schönen, das Kindlein auf dem Arm?
Ikone, was haben sie aus dir gemacht?
Dich ausgezogen, Maria
in ein Kondom gesteckt
und aus war der Traum.
Vers 13
Das alles ist lange her.
Aber jetzt?-
Jetzt reitet Comenius mit einem Skelett von Gaul an die See, um in See zu stechen, wie man es in Seemannsdeutsch ausdrückt. Wenn die Ebbe vorbei ist und keine Sturmflut in Aussicht. Er ist völlig vergessen worden bei all den Beschreibungen der Überfahrt einer Gräfin, der Moderatorin und ihrem Reportertross.
„Das schwarze alte Pferd, dass nur noch einem Skelett vergleichbar ist, schwamm in der Welle dem alten Frachter hinterher..“
„Nein, nein“, ruft der Chor der Meerjungfrauen dazwischen: „Es ist ja gar kein alter Frachter, er wäre auch nicht tauglich für die See – es ist doch das berühmte Segelschulschiff mit den Lehrern und Lernenden, mit den Gärtnern und Pflanzern, Biologen, Botanikern an Bord – und mit A. Die nun endlich die verfluchte alte Welt zu verlassen wünscht und einen Neuanfang sucht.“
„Und er ist auch nicht dem Frachter, der keiner ist,
hinterhergeschwommen, auch nicht auf dem Rücken von tausend Pferden. Nicht einmal mit seinem „Skelett“.
Das hat er angebunden an einen alten Laternenpfahl im Hafenviertel und hat sich sachte in die Gruppe gemischt, die auf das SEGELSCHULSCHIFF strebte.“
Sagt später ein alter Fischer, der ihn kannte.
„Sein Matrosenanzug war vorzüglich.“
Ein anderer an einem Tisch des Zielhafens: „Hau Ruck und Nur zu! – das waren seine ständigen Sätze, wenn es vorwärts gehen musste. Und es musste ja vorwärts gehen. Bei Flaute und bei Sturm. Mit den Segeln, mit den Jungs, den Mädchen, den Gärtnern u.s.w.“
Was für ein Fuhre.
Welche Fracht.
Warum haben wir C. vergessen, übersehen.
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