Vortrag von Margard Wohlfarth, Kulturamtsleiterin in Altenburg/Thüringen 2002

BLOG-Redaktion: Pfr.i.R. Michael Wohlfarth, Berlin
Simone Weil – Vortrag und Gespräch von Margard Wohlfarth, Kultur-und Theaterwissenschaftlerin, anläßlich einer Ausstellung im Spalatingymnasium Altenburg 2002 im 2. Jahr des Bestehens dieser Schule. Gegr. Von Birgit Kriesche (Pädagogin) und Michael Wohlfarth (Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen) und vielen Anderen.
Name der Ausstellung (Friedensbibliothek Berlin):“Die gefährlichste Krankheit ist die Entwurzelung.“(Simone Weil)
Sie ist auch heute abzurufen in der Friedensbibliothek Berlin (Antikriegsmuseum). In Chemnitz wurde sie kurz nach dem Einmarsch der Truppen der russischen Förderativen Republik in die Ukraine gezeigt – anläßlich eines Friedensforums.
Vortrag und Gespräch, Leitung Mi Wo.
Vertretung Michael Wohlfarth
„Wiederholt“ in der Kirchengemeinde Köpenick/Martin-Luther- Kapelle am Mo d.14. 10. 2024 wegen Unpässlichkeit der Verfasserin.
Nach dem Ernte-Dank-Lied „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land“ von Matthias Claudius Begrüßung durch die Leiterin des Gesprächskreises.
Übergabe des Wortes an mich: „Danke für die Einladung meiner Frau in Ihren Kreis und herzliche Grüße von ihr. Aber sie hat mich gebeten, ihren Vortrag, den sie vor über 20 Jahren im Spalatingymnasium zu Altenburg vor der dortigen Lehrerschaft gehalten hat, vorzutragen und bittet um Entschuldigung wegen ihrer Nicht-Teilnahme. Sie ist in Fürbitte bei uns“.
Text der Rede
„Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. – Dieses Gebet enthält alle je möglichen Bitten. Man kann kein Gebet ersinnen,das nicht schon darin beschlossen wäre. Es ist unmöglich, es einmal zu sprechenund dabei auf jedes Wort die ganze Aufmerksamkeit zu richten, ohne daß in derSeele eine vielleicht unendlich kleine, aber tatsächliche Veränderung bewirkt wird,- so kommentiert Simone Weil das Gebet Jesu, unser Gebet.
Wir haben uns heute versammelt, um uns eine Ausstellung zu erschließen, die wundervolle Fotos enthält, die die ganze Welt, alles Leben umfassend darstellen –Landschaften, Menschen etc. – in großer Eindrücklichkeit und Schönheit bei allemRealismus, bei aller kritischen Distanz unmittelbar den ganzen Kosmos derSchöpfung ausschreiten. Sie zeigen Gutes und Böses, Freude und Unglück.
Es sind Fotos bekannter Fotografen aus dem vergangenen Jahrhundert.Sie umschließen Texte von großer Bedeutsamkeit, Gedanken, Zitate, Aufzeichnungen einer bedeutenden Denkerin, Philosophin – Simone Weil.
Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name schon einmal begegnet ist:an der Berliner Humboldt-Universität kam er nicht vor. Natürlich hätte ich auf ihn treffen können bei kritischer Beschäftigung mit bürgerlichen Philosophen,mit Häretikern der marxistischen Ideologie, oder denen, die nicht so recht einzuordnenwaren wie z.B. Walter Benjamin. Der war auch Jude und auch schon tot aber er hattenicht den Makel, ein Mystiker zu sein, wie Simone Weil eine Mystikerin wurde und war…. Simone Weil gehört zu den bedeutenden jüdischen Philosophinnen des ausgehendenJahrtausends neben Rosa Luxemburg ( 1871 geboren), Edith Stein (1891 geboren) undHannah Arendt (1906 geboren).Von Rosa Luxemburg wissen die DDR-Leute wohl alle etwas. Sie war auch so ein Geheimtip unter den Philosophikern und Ästhetikern im Osten und eine Leitfigur der Neuen Linkenim Westen. – Von Edith Stein haben sicher weniger gehört. Sie war Mitarbeiterin des Phänomenologen Edmund Husserl, trat schließlich in den Orden der Unbeschuhten Karmeliterinnen ein, wo sie ihre „Kreuzeswissenschaft“ schrieb, und wurde als Nonne am 2. August 1942 aus dem Echter Karmel – sie war mit ihrer Schwester Rosa nach der Reichskristallnacht aus Sicherheitsgründen von Köln in die Tochtergründung übergesiedelt – deportiert und starb eine Woche darauf in Auschwitz. – Die Heidegger-Schülerin Hannah Arendt (geb. 1906) überlebte in den USA und hat bis zu ihrem Tode 1975 ein umfangreichesphilosophisches Werk verfaßt, das allgemeine Beachtung findet.
Keine der drei Frauen hatte eine rein akademische Laufbahn gewählt. Rosa Luxemburg war vor allem Politikerin. Edith Stein hatte der wissenschaftlichen Arbeit im säkularen Bereich entsagt. Hannah Arendt hatte sich in der Zeit des Dritten Reiches der zionistischen Bewegunggeöffnet und engagierte sich im Widerstand, beschäftigte sich folgerichtig später mit politischer Philosophie, schrieb u.a. über den Eichmann – Prozeß mit dem Untertitel „Über die Banalität des Bösen“. Stein und Arendt waren einem systematischen Philosophieren verpflichtet. –
Wer war Simone Weil?
Sie wurde 1909 geboren – die Jüngste von den Vieren also. Um die Zeit zu verstehen und richtig einzuordnen muß ich mir klarmachen, daß es das Geburtsjahr meiner Mutter ist …. Simone Weil starb mit 34 Jahren. Ihr Leben war erschreckend kurz. Es gab keineKarriere, nicht mal eine abgebrochene wie bei Edith Stein. Eigentlich war Simone Weil„nur“ Lehrerin, Gymnasiallehrerin an verschiedenen staatlichen französischen Schulen, also Beamtin, bekommt Schwierigkeiten, weil sie sich intensivst gewerkschaftlich engagiert, weil sie ungewöhnliche Formen des Unterrichts bevorzugt. – Deshalb gehört diese Ausstellung zweifellos in eine Schule…Ein kurzes, ungewöhnliches Leben, eine ungewöhnliche Biographie, ein ungewöhnliches Gottes-, Welt- und Menschenbild, um die Anliegen der Evangelischen Erwachsenenbildung ins Spiel zu bringen. Ich bin ihrem Namen übrigens erstmals begegnet in unserem neuen Evangelischen Gesang-Buch. Ein Zitat: s.o. – Dann war ich voriges Jahr in Berlin und fand die Information über diese Ausstellung in Form des Zettelpacks mit allen Zitaten aus ihren Schriften, die in der Ausstellung zu lesen sind und dachte, wir müßtendie hier zeigen für uns und andere. Der Begriff der „Entwurzelung“ als Krankheit der menschlichen Seele hatte uns schon – anders gefasst und ohne Kenntnis ihres Ansatzes –in den Jahren des Totalitarismus beschäftigt, den Simone Weil genauso haarscharf geißeltewie die proletarisierende Wirkung des Geldes andererseits. Hinzu kommt, dass das Motto unserer Schule, der 1. Psalm, thematisiert, wie der Entwurzelung zu widerstehen ist, genau im Sinne der Weil. Aber das haben wir dann erst bei der Eröffnung der Ausstellung am 1. September entdeckt!
Ungewöhnliche Pädagogik im Bewusstsein, dass es um mehr gehen muss als um Wissens-Vermittlung und um Erziehung, nämlich um Bildung im weiteren Sinne wurde am Donnerstag an den Schulprojekten Bernhard August von Lindenaus durch Frau Dr. Titz-Matuszak vorgeführt, kompetent und schöpfend aus umfassender Kenntnis der Lindenauschen Biographie. Es tut mir leid, sagen zu müssen, dass ich nicht in der Lage bin, über Simone Weil mit der gleichen Souveränität Auskunft geben zu können, weil ich erst begonnen habe, mich hineinzulesen in ihre Schriften, soweit sie mir im Moment zugänglich waren. Sie wurde in Paris geboren in einer jüdischen Familie, die sich total assimiliert hatte, obwohl die Mutter aus Russland (Rostow am Don) stammte. Aber gerade deren Eltern waren schon Freidenker gewesen. Simone Weil stand der jüdischen Tradition fremd, ja sogar feind-selig gegenüber. Im übrigen ist der Name Weil im Jüdischen so häufig wie der Name Müller im Deutschen. Er führt sich offensichtlich zurück auf Weil der Stadt, so dass ich um Nachsicht bitte, wenn ich den Namen deutsch ausspreche. – Sie wuchs im Pariser Arzthaushalt auf zusammen mit dem drei Jahre älteren Bruder André, der wie sie eine absolute Begabung für Mathematik hatte und diese auch ausbildete. Der Familiensinn war stark ausgeprägt, die Erziehung vorbildlich in einem rein humanistischen Sinne – kein Altes Testament, kein Evangelium, aber die antike Welt und die Märchen mit ihrer klaren Unterscheidung von Gut und Böse „verwurzeln“sich in ihr. Simone ist wieder Bruder ungewöhnlich begabt und schwierig. „Was ihre Professoren beeindruckte, war nicht sosehr das Niveau ihrer Arbeiten als ihre ungewöhnliche Persönlichkeit. Es war unmöglich , von ihrem Charakter nicht beeindruckt zu sein: dieses zwingende Bedürfnis, die Wahrheit zu suchen und sie, wenn sie gefunden war, mit unerschütterlichem Mut auszusprechen, dieses energische Zurückweisen jeden Kompromisses, in kleinen wie in großen Dingen.“ (Cabaud)
Nach Ablegen des Baccalauréats in Philosophie tritt sie in das LycéeHenri IV ein. Das ist eine Mittelschule! Dort setzt sie ihr Philosophiestudium fort bei Émile Chartier, bekannt unter dem Pseudonym „Alain“, dessen Unterricht in der freien Interpretation der großen Denker bestand(Plato, Descartes, Kant, Hegel). „Es kam ihm nicht darauf an, deren doktrinäre Gegensätze zu betonen, sondern die Leben gebende Substanz jedes Denkers zum Ausdruck zu bringen.“ (Cabaud). Diese Methode versucht Weil später selbst zu verwirklichen. Alain gibt die Grundlegung in allem . Bei ihm beginnt die Beschäftigung Weils mit marxistischen, sozialistischen und gewerkschaftlichen Ideen und ihre Positionssuche im Bereich der Religion. Dazu später mehr. Alain will und kann wohl eines: seine Schüler ermutigen ihren eigenen Weg zu gehen und sie dann auch entlassen. Weil tritt 1928 in die École Normale Supérieure ein, die staatliche Ausbildungsanstalt für Gymnasiallehrer. Sie ist eine der vier ersten Frauen, die hier studieren dürfen. Als Studentin gibt sie sich nonkonformistisch, blau strümpfisch, arrogant und radikal. Sie veröffentlicht auf Anregung Alains erste schwerverständliche Artikel, betätigt sich „praktisch“, indem sie Rugby spielt, um ihren Körper zu trainieren, trägt dabei eine chronische Stirnhöhlenentzündung davon,die ihr ganzes weiteres Leben durch schwerste Kopfschmerzen prägt. Sie beginnt, sich aktiv politisch in der Gewerkschaftsbewegung zu betätigen, unterrichtet Arbeiter in einer Art Volkshochschule und verwirklicht und entwickelt dabei Ideen, die auch in der Ausstellung zur Ausprägung kommen.
Das tut sie auch weiter in Le Puy im Département Haute-Loire, wo sie ihre erste Anstellung erhielt. „Ihre pädagogische Begabung grenzte ans Märchenhafte“, schreibt ihr Freund undBiograph Gustave Thibon. „Wenn sie auch die Bildungsmöglichkeiten bei jedermann gern überschätzte, so verstand sie doch, sich jeder Bildungsstufe anzupassen, und ihrem Schüler was auch immer beizubringen.“
Aber ihre Beteiligung an antimilitaristischen und pazifistischen anarchistischen Aktionen stempelt sie zur „Vièrge rouge“ –ähnlich wie ehemals Rosa Luxemburg. Sie tritt für die Forderungen von Arbeitern und Arbeitslosen beim Bürgermeister und im Stadtrat von Le Puy ein und nimmt an Demonstrationen teil. Sie trägt bei Aufmärschen die rote Fahne voran. Es ist die Zeit der Weltwirtschaftskrise und eminenter Arbeitslosigkeit. Im Hause ihrer Eltern trifft sie Leo Trotzki, mit dem sie sich überwirft, weil sie die UdSSR als totalitären Staat nicht für einen Arbeiterstaat hält. In dem Aufsatz „Gehen wir einer proletarischen Revolution entgegen?“ hat sie hellsichtig die Lage in Deutschland vor der Machtergreifung Hitlers analysiert und schonungslos die großen Parteien in Deutschland beurteilt. Ihre Aktivitäten haben zu mehrfacher Versetzung geführt: 1932 nach Auxerre, 1933 nach Roanne/Loire, 1934 nach Bourges. 1934 versucht sie sich, um die wahre Lage der Arbeiter kennenzulernen, als Hilfsarbeiterin in einer Elektrofirma, führt Protokolle über ihre Tätigkeit, erkrankt, nimmt erneut eine Lohnarbeit an, wird arbeitslos, arbeitet auf einem Bauernhof, schreibt philosophische und politische Texte. Geht 1935 nach Spanien, um aufseiten der Republikaner zu kämpfen, erleidet einen Unfall und versucht nach mehreren Klinikaufenthalten 1937 wieder zu unterrichten, was nicht von Dauer ist. Nach Kriegsausbruch geht sie mit den Eltern über die Demarkationslinie. Sie gehört zur Résistance, schreibt und arbeitet ab und an in der Land-Wirtschaft bis zur Ausreise nach Amerika 1942. Von dort nach England, wo sie wegen Spionage-Verdachtes isoliert wird. Ab Januar 1943 arbeitet sie unter Robert Schumann und Louis Clouson für die Forces de La France Libre und möchte als Partisanin nach Frankreich zurück, was ihr wegen ihres jüdischen Aussehens verweigert werden muß. Sie beschließt dann, nichts zu essen, um so den Hungernden in Frankreich nahe zu sein. Vorher hat sie die Hälfte Ihrer Lebensmittelration für ihre Landsleute abgegeben. Im April Einlieferung in ein Londoner Krankenhaus. Feststellung von Lungentuberkulose. Sie stirbt am 24. August 1943 an Herzmuskelschwäche und Auszehrung. Ab 1947 beginnt die Herausgabe ihrer Schriften.Wie ist diese scheinbar chaotische Biographie in Einklang zu bringen mit dem vorhin mitgeteilten Zitat? – Wir ahnen, daß es eine ganz andere Seite Simone Weils geben muß. -War sie schizophren oder „verrückt“, wie Charles de Gaulles meinte?
Wir lesen dazu in der Ausstellung:
Ausgespart blieb bei unserer Betrachtung weitgehend die religiöse Dimension, Ihre Spiritualität. – Weil hat eine in die Tiefe gehende Begegnung mit dem Christentum in einem portugiesischen Fischerdorf, erlebte 1937 eine Anrührung in Assisi in der Kapelle Santa Maria degli Angeli, und hat 1938 in der Benediktiner-Abtei von Solennes eine Christus-Begegnung, die alles das, was in ihr angelegt war – sie sagt, sie habe seit frühester Kindheit den christlichen Begriff der Nächstenliebe gehabt, dem sie den Namen der Gerechtigkeit gab, wie an mehreren Stellen des Evangeliums, und der so schön ist; und sie sagt, der Begriff der Reinheit, mit allem, was dieses Wort für den Christen in sich enthalten kann, habe sich ihrer mit sechzehn Jahren bemächtigt – zweifelsfrei auf Christus hin entfaltete. Ihre Theologie des Kreuzes ist der Angelpunkt aller Überlegungen, die sich auch in dieser Ausstellung finden. Dabei war ihre totale Hingabe ihres Ichs an den Gekreuzigten (keineswegs eine Hingabe an die Kirche) kein Hinderungsgrund für ihre politische Arbeit. Im Gegenteil!
Wir müssen vielmehr alle Äußerungen – auch in der Ausstellung – vor dieser Folie sehen.
Simone Weils philosophisches Werk ist am ehesten der Existenzphilosophie zuzuordnen,am meisten spirituell Sören Kierkegaard verwandt, den Simone Weil vermutlich gar nicht kannte . Kierkegaard unterschied angesichts der aufkommenden Moderne (Technik, Zivilisation, Medien etc.) ästhetische, ethische und religiöse Existenz .Die religiöse Existenz ist für Weil wesensmäßig Grundlage ihres eigenen Denkens und Handelns aber auch ihre Forderung an die Gesellschaft: „Das Höchste ist nicht, das Höchste zu verstehen, sondern es tun“ , sagt Kierkegaard in den Tagebüchern. Dementsprechend hoch und radikal sind z.B. ihre ethischen Anforderungen an Politiker. Das werden wir im ersten Teil der Ausstellung sehen,wo es um die Bedürfnisse der menschlichen Seele geht. – Das Höchste tun, beten, ohne Bedingungen zu stellen und auf Gott warten unter Furcht und Zittern, ob er uns vielleicht trotz allem liebt! Weil sieht sich selbst als Närrin in Christo. Becketts „Warten auf Godot“ ist für mich da eine Verstehensbrücke. – Sie war übrigens ein fröhlicher Mensch!
Weil denkt nicht in Kategorien der Logik, der Soziologie, der Psychologie, auch nicht philosophisch systematisch sondern in Paradoxa. Thibon, Freund und Herausgeber ihrer „Cahiers“ hat einen Katalog von Merkworten aufgemacht, die ihre Notizen umkreisen: Schwerkraft und Gnade – Leere und Ausgleichung – Hinnahme der Leere – Ablösung – Verdrängung der Leere durch Einbildungen – Verzicht auf Zeit – Begehren ohne Gegenstand – Das Ich – Entschaffung – Auslöschung – Notwendigkeit und Gehorsam – Täuschungen – Götzendienst – Liebe – das Böse – das Unglück – Die Gewalt – Das Kreuz – Waage und Hebel – Das Unmögliche – Widerspruch – Der Abstand zwischen dem Notwendigen und dem Guten – Zufall – Der Atheismus als Läuterung – Die Aufmerksamkeit und der Wille – Dressur – Vernunfteinsicht und Gnade – Der Ring des Gyges – Der Sinn des Universums – Metaxy – Schönheit – Algebra – Der soziale Buchstabe – Das große Tier – Israel – Die soziale Harmonie – Mystik der Arbeit.
Das Anliegen der Aussteller aus Berlin (Umfeld ZIONSKIRCHE): Entwurzelung. Dieser Begriff mußte sofort faszinieren gerade heute in unserer Situation wieder, gerade auch Lehrer. Lassen Sie mich vollständig zitieren: „Die E. ist bei weitem die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft, weil sie sich selbst vervielfältigt. Einmal wirklich entwurzelte Wesen … verfallen entweder einer seelischen Trägheit, die fast dem Tode gleichkommt, oder sie stürzen sich in eine hemmungslose Aktivität, die bestrebt ist, auch diejenigen zu entwurzeln, die es noch nicht oder erst teilweise sind.“ Wir werden erinnert an den Marxschen Begriff der Entfremdung und an den psychologischen Begriff der Diskontinuität bei Max Picard. (Picard sagt, daß früher die Kontinuität die Struktur des Einzelnen und der Welt war im Gegensatz zu heute.). –
Als Zuarbeit zu einer künftigen Verfassung Nachkriegs-Frankreichs formuliert Weileine „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ als Gegenentwurf zur FranzösischenRevolution mit ihrem Menschenrechtsbegriff, der auf dem Naturrecht fußte. Vorrang vor demRecht habe die Verpflichtung, die nicht auf zufälligen Situationen oder x-beliebigen gesellschaftlichen Spielregeln beruht, sondern ausgeht von den Bedürfnissen der menschlichen Seele (so titelt auch der erste Teil der Ausstellung). Diesen Bedürfnissen wird nicht entsprochen, indem man schrankenlose Freiheit postuliert. Vielmehr tun sich Spannungsfelder auf als da sind Gleichheit und Hierarchie, Gehorsam und Freiheit, Wahrheit und Freiheit des Ausdrucks, Einsamkeit und Intimität und zugleich soziales Leben, persönliches und kollektives Eigentum, Strafe und Ehre, Sicherheit und Gefahr. Wir können diesen Katalog jederzeit ergänzen von unseren gegenwärtigen Erkenntnissen her.
Der zweite Teil der Ausstellung zeigt die Ursachen und Ausmaße der Entwurzelung, die sichals Proletarisierung des Menschen darstellt. Der Mensch, mehr oder weniger ausgestattet mit Geld verliert sein menschliches Gesicht, wird zur Verbraucher. Der „König Kunde“ist eine Karikatur des Menschen, eine Neuauflage des Proletariers, der Karl Marx ehemals so mit Mitleid erfüllte, daß er schließlich eine Gesellschaft postulierte, in der die Bedürfnisseder menschlichen Seele per Gesetz verwirklicht werden sollten. Was dann auch Hitler versuchte. (Und Stalin! – d.Red.)
Der Totalitarismus ist die andere Seite der Medaille. Hellsichtig hat Simone Weil erkannt, daß der Sozialismus darauf aus war, den Proletarierstand nicht zu beseitigen, sondern auf die Gesamtheit der Menschheit auszudehnen, d.h. – die Seelen im Namen einer Ideologie zu töten oder gefügig zu machen. Geld, Kollektiv, Meinung, Medien, Mode -, in ihnen dient die Masse Mensch dem Großen Tier, von dem schon in der Offenbarung und in Platons „Politeia“ die Rede ist. Die Entwurzelung mündet im Götzendienst, in knechtischer Gesinnung und ist das größte Unglück, weil es Gut und Böse nicht mehr zuläßt, d.h.es läutert das Böse, indem er das Grauen davor beseitigt. Wer ihm dient, dem scheint nichts mehr böse oder dem darf zumindest nichts mehr böse erscheinen, außer den Verfehlungen im Dienst.“
Teil 3 der Ausstellung: Die Einwurzelung
Folgende Bedürfnisse sind zu erfüllen, damit die menschliche Seele einwurzeln kann in ihren natürlichen Lebensbereichen, die keine Nischen sind, sondern öffentlich und allen zugänglich: das Vaterland, die durch Sprache, Kultur, eine gemeinsame geschichtliche Vergangenheit, durch den Beruf, die Heimat definierten Lebensbereiche. Verbrecherisch ist alles, was ein menschliches Wesen entwurzelt oder es verhindert, Wurzel zu fassen. Kriterien sind Brüderlichkeit, Schönheit, Freude, Glück. –
„Wer auch immer eine gleichviel wie beschaffene Macht – eine politische, administrative, richterliche, ökonomische, technische, geistige oder sonstige Macht ausübt oder auszuüben wünscht, sei gehalten sich zu verpflichten, diese Verpflichtung zur praktischen Regel seines Verhaltens zu nehmen.“
Ich schlage vor, dass Sie die Texte der Weil nicht zu Gegenständen erkenntnistheoretischer Überlegungen machen. Lassen Sie sie durch sich hindurchgehen. Meditation ist hier angesagt, vielleicht eine Betrachtung unter den Aspekten der Bitten des Vaterunsers, das Simone Weil als einzig notwendiges weil von Christus vorgeschlagenes Gebet durch definiert und für sich akzeptiert hat. Und lesen Sie dann vielleicht darüber hinaus das, was hier zugänglich ist.
Die Gefahr besteht, daß man die Texte instrumentalisiert. Z.B. könnte man bestimmte Äußerungen synkretistisch deuten und meinen, Weil wolle die Religionen vermischen – ein beliebter Zug unserer Zeit. Im Grund meint sie doch aber, daß jeder seinen eigenen Christus finden muß aus seiner Tradition. Aber er ist der Weg , die Wahrheit und das Leben. Er ist die Tür. Wohin? – Das Kreuz ist der Ort des Heils und Grund der vollkommenen Freude ohneWissen um die Zukunft, die uns zu entschlüsseln versagt ist. Das Kreuz ist unsere einzigeHoffnung. „Kein Wald bringt solchen Baum hervor, mit dieser Blüte, diesem Laub und dieserFrucht.“ (Crux fidelis, inter omnes/Arbor una nobilis,)/Nulla talem silva profert/Fronde, flore, germine … – Venentius Fortunatus). Nur dadurch wird Einwurzelung letztlich wirklich möglich.
In diesem Sinne noch ein letztes Wort zur Lehrerschaft, ein Hinweis nämlich auf die verwendete Literatur. Ich selbst bin noch lange nicht fertig mit der kleinen Auswahl Weilscher Texte, die ich im Buchhandel erwerben konnte. In der Reihe Klassiker der Meditation bei Benziger ist eine Sammlung wichtiger Schriften erschienen, die ich Ihnen sehr empfehlen möchte. Sie finden da wichtigste Traktate, unter anderen die Studie für eine Erklärung der Pflichten gegen das menschliche Wesen (Anstoß zur Ausstellung) aber vor allem die „Betrachtungen über den rechten Gebrauch des Schulunterrichts und des Studiums in Hinblick auf die Gottesliebe“, entstanden 1942.
Empfehlen möchte ich auch die wirklich gute rowohlt-Monographie von Angelica Krogman“.
Altenburg, d. 16. September 2002
Ende des Vortrages, Gespräch und abschließendes Gebet mit Segen.

.
Simone Weil
Zitate über Gott
„Zwei Gefangene, deren Zellen nebeneinander liegen, kommunizieren miteinander, indem sie an die Wand klopfen. Die Wand ist das, was sie trennt, aber sie ist auch ihr Kommunikationsmittel. So ist es auch mit uns und Gott. Jede Trennung ist eine Verbindung.“
„Nur das Unmögliche ist für Gott möglich. Das Mögliche hat er der Mechanik der Materie und der Autonomie seiner Geschöpfe überlassen.“ „Wir können nur eines über Gott wissen – dass er das ist, was wir nicht sind. Unsere Erbärmlichkeit allein ist ein Bild dafür. Je mehr wir es betrachten, desto mehr betrachten wir ihn.“
„Im Verhältnis zu Gott sind wir wie ein Dieb, der in das Haus eines gütigen Hausherrn eingebrochen ist und einen Teil des Goldes behalten durfte. Aus der Sicht des rechtmäßigen Besitzers ist dieses Gold ein Geschenk; aus der Sicht des Einbrechers ist es ein Diebstahl. Er muss gehen und es zurückgeben. So ist es auch mit unserer Existenz. Wir haben ein wenig von Gottes Wesen gestohlen, um es zu unserem zu machen. Gott hat uns ein Geschenk daraus gemacht. Aber wir haben es gestohlen. Wir müssen es zurückgeben.“
„Die Welt ist die Sprache Gottes zu uns.“
„Wir müssen alle Tatsachen lieben, nicht wegen ihrer Folgen, sondern weil in jeder Tatsache Gott gegenwärtig ist.“
„Wenn wir Gott sein Verbrechen gegen uns vergeben, das darin besteht, dass er uns zu endlichen Geschöpfen gemacht hat, wird er uns unser Verbrechen gegen ihn vergeben, das darin besteht, dass wir endliche Geschöpfe sind.“
„Wir können keinen einzigen Schritt zum Himmel machen. Es liegt nicht in unserer Macht, uns in vertikaler Richtung fortzubewegen. Wenn wir aber lange in den Himmel schauen, kommt Gott und nimmt uns auf.“
„Inmitten des Abgrunds der Verzweiflung leuchtet der Glanz Gottes am hellsten und bietet dem müden Geist Trost und Hoffnung.“
„Das Streben nach Gott verkörpert ein Streben nach Bedeutung, ein unerschütterliches Streben nach Transzendenz in einer Welt, die durch materielle Grenzen eingeschränkt ist.“
„Wenn wir die Wunder der Schöpfung betrachten, erhaschen wir flüchtige Blicke auf die Großartigkeit von Gottes Kunstfertigkeit, die durch die Jahrhunderte hindurch widerhallt.“
„Gott zu begreifen bedeutet, die gesamte Existenz zu umarmen und sich der göttlichen Gegenwart hinzugeben, die sowohl das Innere als auch das Jenseits durchdringt.“
„In der Stille der Selbstbeobachtung begegnen wir den geflüsterten Äußerungen Gottes, die durch die Korridore der Seele widerhallen.“
„Gottes Liebe ist die ewige Quelle allen Mitleids, die unaufhörlich fließt, um die Herzen der Menschen zu erheben und zu erlösen.“