
1.
Tief im Wald, im Odenwald.
Wir sind am Donnerstag d. 17. Oktober d. J. (24) von Müggelheim losgefahren mit der Aussicht, am späten Nachmittag in Weiher (Mörlenbach) im Odenwald zu landen. Hauptstraße 123 war eingegeben in das Navi und los ging es.
Das Gerät brachte uns zum Hermsdorfer Kreuz.
Von dort durch meine Kinderheimat Holzland, Wöllmisse, Stadtroda, Tröbnitz, Jena.
Tunnel durch die Jenaer Kalksteinberge. Über uns sozusagen die Silberdisteln.
Dann in’s FREIE.
Thüringen.
Apoldas Glockengießerei, Klöße, Weimar werden angezeigt.
Buchenwald muss nicht angezeigt werden. Der Glockenturm sagt alles. Der Blick ins weite Land. Von da oben. Fritz Cremer.
Die Wächter, die Bauernsöhne damals. Die Familien. Ich kenne sie noch. Andere auch. Oft die sympathischsten. Das ist absurd. Das ist paradox. Das muss ein guter Seelsorger verkraften. Ich erinnere an meine Dienstzeit. Das war die Dienststrecke Altenburg – Eisenach. Befehlsempfang. Oder Widerspruch.
Weimar-Buchenwald. Der Vertrauenslehrer Höcke, jetzt AfD. Als extrem eingestuft. Rechts.
Rechtsextremist.
Ich bin Thüringer, wenn auch im Osten geboren.
Weiter Erfurt, Gotha, die Wirkungsstätte meiner Eltern. Dankbarkeit, dass ich von ihnen die Kategorien gelernt habe, die jetzt ausgestorben scheinen. Die im Kommunismus platt gemacht wurden. Und wir hatten so gehofft, dass sie wieder durch den Beton kommen. Durch den Pfusch der Bauherren, durch Ritzen, die übersehen waren. Wie ein verstreuter Löwenzahn.
Was sagte ein Pfarrer aus Südafrika, der in Eisenach missionieren wollte: ich gehe zurück. Hier ist nur Beton. Ja, hier ist Wissenschaft und Kommunismus. WIKO. ML ist dagegen harmlos gewesen. WIKO heißt Wissenschaftlicher Kommunismus. ML heißt nicht Martin Luther, sondern Marxismus – Leninismus.
Ja, Eisenach. Die Wartburg grüßt von WEITEM. Rechts immer die Goldene Aue. Das katholische Eichsfeld. Meine Brüder, die gegen die Nazis waren. Wie sie auch stand gehalten haben, stand halten konnten (!!!) im Sozialismus deutscher demokratischer Prägung. Ich nehme die Deutsche Demokratische Republik wörtlich gerade. Wie Sie merken.
GRENZE: Hessen. Wir sind schon da. Von Berlin aus gesehen vielleicht.
Frankfurt am Main ist das nächste Ziel. Wir wursteln uns durch – durch das Geflecht der Autobahnen. „Weiter…und immer weiter…“ Wir wollen doch in eine Mühle in den Odenwald.
Auf der Bahn nach Basel werden wir abbiegen und durch einen Tunnel fahren, der uns dann in diesen Wald bringt.
In den Odenwald.
In eine Mühle in Weiher. Seitdem das Große Mühlensterben in den Sechzigern los ging und der Bach verlegt wurde, damit eine Straße gebaut werden konnte als Verlängerung des Tunnels durch den Berg, die dann nach Hirschhorn führt und wenn du willst nach Heidelberg immer am Neckar entlang. Oder umgekehrt weiter hoch nach Neckargerach, wenn du zurück willst, ganz zurück in den Norden, Norden, Norden. Berlin der Moloch, das Babylon.
Nach vier Nächten wollten wir.
Jetzt aber sind wir da und es begleitet uns weiter die Liebesgeschichte von Heloise und Abaelard und dass SIE IHM vor allen Dingen vorwirft nicht zärtlich genug gewesen zu sein. Nur gierig. (Siehe Paulusbriefe zu diesem Thema.). Das ist ihre Philosophie. Die Logik der Liebe, wie Armin Strohmeyr sich rechtfertigt, SIE aufgenommen zu haben in den Kreis der GROSSEN PHILOSOPHINNEN (Titel des Buches).
2.
Davor – noch zu Hause – waren wir bei Kapitel Simone Weil. Die Lehrerin. Die Mystikerin. Gemeindeabend in ML – das ist Martin-Luther-Kapelle/ Uhlenhorst in Treptow-Köpenick, Berlin -Ost.
Auswertung.
3.
Oder – JEANNE HERSCH (1910-2000) – jetzt wieder nach der Rückfahrt in Müggelheim (Berlin). Wer war sie? Die älteste und zugleich Jüngste durch ihr hohes Alter in dem Reigen der 10 Frauen, die der Germanist Strohmeyr bei Piper bescheibt.
Jüdisches Elternhaus. Russland-Polen-Baltikum war die eigentliche Heimat ihrer Eltern. In der Hoffnung, dass Kerenski es schafft aus dem zaristischen Russland eine bürgerliche Demokratie zu machen. Er hat es nicht geschafft, und nach dem Sieg Lenins kehrt ihr Vater sofort um auf seinem Erkundungs- weg nach Russland und wird mit seiner Frau und Kindern nun endgültig in Genf bleiben, die neue Heimat der Familie Hersch in der Schweiz.
Der Traum Heimat Russland oder Polen geht zu Ende mit dem Sieg der Bolschewiki.
Ihre Tochter Jeanne kommt am 23. Juli 1910 zur Welt. In einem gut bürgerlichen Elternhaus.
Sie hätte Pianistin werden können, aber nach dem Abitur 1928 beginnt sie in ihrer Heimatstadt Literaturwissenschaften zu studieren, um schon nach einem Jahr nach Heidelberg zu gehen, um bei Karl Jaspers philosophische Vorlesungen zu hören. Die deutsche Philosophie scheint es ihr angetan zu haben, obwohl ihre Deutschkenntnisse so sind, dass ohne einen Kommilitonen, der gleichermaßen deutsch und französisch spricht, ein wirkliches Verstehen in dieser Zeit kaum möglich gewesen wäre. Eigentlich hat Prof. Jaspers sie in seinem Amtszimmer abgelehnt, als sie kommt und ihn bittet, trotz mangelnder Deutsch-und Philosophiekenntnisse am HEGEL-SEMINAR teilnehmen zu dürfen. In letzter Sekunde rief er ihr hinterher: „Dann kommen sie eben!“- später ist sie Vorsitzende der Karl-Jaspers-Stiftung und übersetzt seine Werke in‘ s Französische.
Sie weiß, was STAUNEN ist und BEGEGNUNG heißt. Sie ist begabt. Über ihre Zeit in Deutschland, als die NSDAP stärkste politische Kraft wurde und 1933 Hitler die Macht ergriff schreibt sie später ein Buch „BEGEGNUNG“, in der sie verarbeitet, was sie umtreibt: Das schlechte Gewissen, dass im Elfenbeinturm der Reinen Lehre es sich so gut reden läßt, wo andere eingesperrt werden, weil sie etwas sagen. Das Ausblenden der Wirklichkeit um sie herum. In einer Zeit, wo deutsche Jüdinnen und Juden schon nicht mehr deutsche Universitäten besuchen dürfen. Sie selber ist ja Ausländerin, die das (noch) nicht betrifft…
…bis zu einem nationalsozialistischen Martyrertag (Albert Leo Schlageter) der Rektor der Universität Heidelberg ein paar Worte sagt, eine Rede hält.
Nach dem Lied:“…wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut…“
Der Rektor hieß Martin Heidegger, der Magier unter den Philosophen, den Jeanne Hersch unbedingt hören wollte, nachdem sie 1931 ihr Staatsexamen mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit in Genf absolvierte und in Paris ein Nachdiplomstudienjahr angehängt hatte.
1936 erscheint ihr erstes Buch: Die Illusion – der Weg der Philosophie.
Warum beschreibe ich den Weg dieser Frau bis dahin. Weil sie Bildung ernst genommen hat. Ob als Begleiterin und Privatlehrerin. Sie hält laufende Vorträge zur Geschichte der Philosophie im Rundfunk und ist mit Unterbrechungen in Südamerika und Nordafrika an der ECOL INTERNATIONALE Lehrerin (von 1933 bis 1956) und gibt Französisch, Latein und Philosophie.
Ihre Dissertation Sein und Form (L’etre et la forme) als Schlüssel zur akademischen Karriere an der Universität Genf.
Ordentliche Professorin von 1962 bis zur Emeritierung 1977. Gastsemester weltweit, Direktorin der Abteilung Philosophie der UNESCO in Paris von 1966 bis 1968 (Das Recht ein Mensch zu sein, Aufsätze).
Bei Karl Jaspers hat sie KOMMUNIKATION gelernt. Verstehen gelernt, was er damit meint und jetzt auch sie. Sie bleibt immer im Gespräch mit ihren Schülern und Schülerinnen.
Einen Satz bitte ich zu behalten: Das Geheimnis des Menschen besteht darin, wie er FREIHEIT UND VERANTWORTUNG in Verbindung hinbekommt. Letztlich ist sie nahe Sören Kierkegaard und Bergson. Damit kommt sie für mich auch sehr nahe an einen Theologen, der in der DDR begonnen hat und im Westen zu dem Eberhard Jüngel geworden ist, den viele verehren und zitieren oder sich mit ihm auseinandersetzen: Gott als Geheimnis der Welt.
JEANNE HERSCH war überzeugte Sozialdemokratin vom „Bündnis“ her, dass ihr Vater gegründet hat, um Russen und Polen nicht nur in der Schweiz zu „bündeln“ in ihrem Anliegen und Durst nach Gerechtigkeit und Aufklärung. Nicht mit dem Ziel auszuwandern nach ZION, sondern in dem Europa des 20. Jahrhunderts.
Zionismus war nicht, sondern Existenz hier und jetzt.
Da Stichwort FREIHEIT hat sie mit Hannah Arendt gemein, bringt sie in Position zu Sartre und wird ergiebig in dem fortlaufenden internationalen Gespräch diesseits und jenseits des Atlantiks, in dem sie den Begriff der Kommunikation fruchtbar macht.
Daher das sympathische Offenhalten der Dinge und Aufrechterhalten! Freiheit und Recht, Demokratie und Macht, Tradition und Spontaneität werden in ein solches Verhältnis gebracht, dass es nicht leere Worthülsen werden oder Absurditäten erzeugen, sondern als lebendige Bausteine helfen, die Welt nach dem 2. Weltkrieg aufzubauen. Sie hat dafür segensreiche Ämter übertragen bekommen, besonders die Arbeit im Rahmen der UN hat ihr das Echo gebracht, auf dass sie so gehofft hatte: Dass der Frieden kein Friedhofsfrieden wird, sondern ein Gespräch zwischen den Generationen.
Keineswegs sollte dabei die Wahrheit zu kurz kommen – um des lieben Friedens willen – und wurde nicht ausgeblendet. Das durfte nicht sein. Sie wusste es aus eigener Erfahrung, nachdem sie Philosophie und das Grauen, welches sie erlebte bei einer Feierstunde in der Heidelberger Universität anläßlich des Todestages eines Terroristen in der nationalsozialistischen Bewegung, nicht mehr fein säuberlich trennen konnte, sondern gezwungen war, zusammenzuschauen.
Sie spürte, was da auf sie zukommen musste. Die Macht der Mehrheit. Sie war die Minderheit. Auf der Straße der Judenhass und sie mit ihrer Liebe zu Erkenntnis und Freiheit. In ihrem Roman „BEGEGNUNG“ versucht sie emotional diese Erlebnisse in Erfahrung umzumünzen, die sie tragen und nicht zerstören. „Freiheit ist nicht nur ohne Verantwortung undenkbar, sie existiert auch nicht ohne Wahrheit.“ (Armin Strohmeyr in seinem Buch „Große Philosophinnen“, dem ich das Bekanntwerden mit JEAN HERSCH verdanke).
Das mag der Grund sein, weshalb sie grundsätzlich nicht ablehnend war gegenüber Christlicher Lehre und Dogmatik, sondern sehr wohl um den Charakter der Sukzessive wußte und ihrer bewahrenden Kraft. Besonders die Römisch-Katholische Kirche hat sie nicht als Gegnerin verstanden, sondern als Partnerin. Gerade in der jüngeren Zeitgeschichte, in der sie viel Unsinn entdeckte wegen Übertreibungen, die ihrem Verständnis von Freiheit nicht gerecht wurden, wohl aber in der Lage waren und sind, sie zu kompromittieren.
Die Herkunft ihrer Familie hat sie vor Extremen bewahrt. Der Schrecken und die Heimsuchung, die Vernichtung ihres Volkes haben sie gelehrt, dass es Macht geben muss. Staat und Ordnungen. Gute Mächte, weil es das Böse gibt.
Sie mußte regelrecht um Vergebung bitten, dass es ihr so gut ging während die Familie ihrer Mutter in Polen umgebracht wurde.
Sie war keine gläubige Jüdin und auch keine bekennende Christin wie Simone Weil oder Edith Stein und andere. Aber mein Eindruck ist, dass sie wußte, dass „alles gut war“. Eben die Schöpfung durch die Liebe Gottes. Das hat sie aufrecht erhalten gegenüber dem NICHTS Sartres oder den Verführungen einer totalitären auch sozialistischen Ideologie. „Der Mensch kann der Aufgabe, frei zu sein, nicht entgehen.“ Ihr Credo und ihr Einspruch. Bei allen Enthaltungen im Alter, wenn es zu unsinnig wurde, protestierte sie.
Menschenbild war ihr am liebsten, wenn sie es gesehen hat. In der Kunst. Und auch in der Religion. Das Gottesbild hat sie dabei stehen gelassen und nicht etwa von irgendeinem Sockel gestürzt, den es ja gar nicht gab. Sie war keine Bilderstürmerin, sondern sie wusste um die Bedeutung der Kunst als Vermittlerin. Auch in der Frage nach der Transzendenz, glaube ich herausgehört zu haben.
Ohne Kontinuität und Überhöhung fehlt die entscheidende Dimension. Die THEOREIA(griechisch). Die Schau. Weil die Praxis, das SOZIALE gestemmt werden muss.
Es bleibt sein – des Menschen – Geheimnis, wie er es schafft im Gespräch mit Andersdenkenden und Gleichgesinnten dies in Einklang zu bringen: Freiheit und Verantwortung. Letztendlich nur in einer Transzendenz, zu der er verpflichtet ist. AMEN kann man hierzu nicht sagen. Aber DANKE JEANNE HERSCH für den aufrechten Gang in aller Freiheit. Und aller mühseligen Verantwortung.
Berlin-Müggelheim 24.10.2024
Weitere Titel der Jeanne Hersch:Die Ideologien und die Wirklichkeit; Das philosophische Staunen; Der Feind heißt Nihilismus;
