Liebe LeserInnen, ich werde heute das Vorwort zur ersten Auflage von PREDIGEN AUF DEM MARKT, eine Predigt daraus und eine Erklärung zu den Ereignissen nach 1989 in meiner Heimatstadt Altenburg in Ostthüringen, in meinen Blog stellen. Sie wissen: am 9. Oktober war ein Jahrestag, der 35. Jahrestag der Friedlichen Revolution. Vor 35 Jahren war der Umzug um die Stadt Leipzig – wie mit Posaunen – und die Mauer fiel – in Berlin. Der Stacheldraht war schon geschnitten in Ungarn. An der Grenze zu Österreich.
Die Straßenbahnen fuhren nicht. Wir haben die Luft angehalten. Ich bin in das Telefonhäuschen an der Post am RING gerannt und habe die Nummer meines Pfarramtes gewählt, die auch die Nummer von meinem zu Hause war. Damals war noch nicht alles so getrennt. Das war genau um 18.32 Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit.
„Es wird nicht geschossen!“ Das war die Botschaft für meine Frau, die sich Sorgen machte wegen unserem ältesten sohn und auch mir. Ich habe dies Nachricht später wörtlich in meiner Telefonakte „Altenburger Akademie“ OV gefunden mit Uhrzeit. Ich selber habe nicht, wie man das heute vielleicht machen würde, auf die Uhr geschaut. Habe auch kein Handy dabei gehabt. Wie gesagt: Telefonhäuschen außen vor. Leider ist diese Zelle dann schon nach 10 Jahren nicht mehr da gewesen.
Höchstens auf die Dächer auf denen Cameras installiert waren, haben wir geschaut. Nicht die von ARD oder ZDF oder SFB oder RIAS waren dort oben, sondern die tausend Augen des Staatssicherheitsdienstes. Aber sie haben nur beobachtet. Es ist nicht geschossen worden. Warum? Das weiß niemand so genau. Das ist Geschichte. Das sind Sekunden, Minuten, Stunden, Tage.
Da werden die so genannten Tages-Losungen der Hernnhuter Brüdergemeine sinnfällig und eine goße Hilfe, in goßen Nöten der Ungewissheit.
Die unten abgedruckte Predigt wurde von mir gehalten zur Einführung des Stadtparlamentes in Altenburg. In der Kirche, von der aus die Demonstationszüge infolge der Montagsdemonstrationen in Leipzig losgingen, über den Markt, duch die Gassen, zur SED-Kreisleitung. Die Brüderkriche, „meine“ Kirche war von 1988 an bis ins Jahr 2007 meine Dienstkriche.
Sie ist jetzt – mit unvergänglicher Kreide gezeichnet – bei uns in Berlin. Zu sehen auf einem großen Schieferziegel. Das Bild ist von einem Lehrer des von uns mit anderen gegründeten Spalatin-Gymnasiums gezeichnet worden. In unserem Vorgarten an einen Fliederstrauch gelehnt, erinnert es mich jeden Tag, an das was gewesen ist und an das was sein könnte, wenn man die Hoffnung nicht aufgibt im Glauben an Jesus Christus. Unseren HERRN.
Ein Geschenk des Grafikers und Zeichenlehrer aus Kürbitz,Stefan Knechtl, initiiert von meinem damaligen Vikar, jetzt Pfarrer Sven Thriemer in Pölzig – mit 20 Dörfern.
Sie können die Predigt in dem Band nachlesen: PREDIGEN AUF DEM MARKT. In diesem Band sind mir alle wichtigen Andachten (Kolumnen) dieser Zeit enthalten, z. T. in Briefform an die Gemeinden, die sie lesen sollten. Und zwar in der ersten demokratischen Wochenzeitung(„Altenburger Wochenblatt“) die 1990 für Altenburg und das Altenburger Land initiert worden war von Ingo Schulze und einem Kreis, der aus den Vorbereitungskreisen für die Friedensgebete hervorgegangen war. Und dann waren die Kolumnen immer wieter zu lesen in den Folge-Blättern bis zur Leipziger Volkszeitung als Osterländer Volkszeitung (Tageszeitung). Es gab stehenden Applaus in der Landessynode für die ersten christlichen Andachten in säkularen Zeitungen in Thüringen überhaupt.
Das Buch ist in unserem Verlag herausgekommen (epubli).Und ich bin immer wieder darauf angesprochen worden. Die Auflage der Blätter war höher als die Zahl der Haushalte im gesamten Landkreis Altenburg (Altenburger Land).
Vorwort zum Buch PREDIGEN AUF DEM MARKT
Eigentlich handelt es sich um eine Nachwort, denn alle Worte, die Sie hier lesen werden, alle Sätze, Predigten, Andachten, Zeitungskolumnen als Deutungs- und Begleitworte für die schwierige Zeit nach 1989 sind schon gesagt, gedruckt worden, um eine Öffentlichkeit herzustellen für Kirche und Gemeinde nach der 40-jährigen Ghettoisierung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Aber vor allen Dingen: um Menschen – die auch nicht der Kirche angehörten – es sind die meisten in der post-sozialistischen Jugendweihe-Gesellschaft – auf diese Weise zu erreichen. Daher der paulinische Titel des Buches. In einer Thüringischen Mittelstadt mit 12 Prozent Kirchenzugehörigkeit. Nach dem Wegfall der Blauhemden für Pioniere und FDJler, der Kampfgruppenanzüge, der tausendfachen Losungen an Wänden innen und außen, Fahnen – mit dem Ersatz der tausendfachen Werbung gab und gibt es ein sozusagen multikulturelles Vakuum und daher große Anfälligkeit besonders unter Jugendlichen. Es ist sicher kein Zufall, daß Frau Zschäpe rumänische Wurzeln hat und in Thüringen groß geworden ist.
Ein Pfarrer, der zwanzig Jahre mit seiner Familie im Evangelischen Jugendzentrum w o h n t e neben der größten Kirche eines Landstriches, der die entlassenen Arbeiter weinen hörte, wenn sie nachts betrunken „unsere Gasse“ herunter kamen, lernte neu, daß sich Wende aus dem Griechischen katastrophe herleitet. – Er und seine Frau fühlten sich verantwortlich.
Dieselben Arbeiter hatten in seiner Kirche den Sturz Erich Honeckers „ausgerufen“, darin das erste Mal in ihrem Leben eine nicht zensierte Rede gehalten, sprechen gelernt – und beten.
Ich möchte mich bei der Leipziger Volkszeitung bedanken, dem Altenburger Kurier, der Stadt Altenburg, dem Landkreis Altenburger Land, die mit mir gut zusammen gearbeitet und die vielen Jahre auf „exklusive Nutzungsrechte“ verzichtet haben – seitdem es möglich wurde durch den Sieg der Friedlichen Revolution.
Es hat auch Spaß gemacht, als Erwachsenenbildner und Jugendpfarrer das eigentliche Anliegen des Herbstes 89 in einem Detail zu verwirklichen: Öffentlichkeit herstellen. Für Kirche und Theologie buchstabiert: „Auf dem Markt predigen“. Ich hoffe, dem geneigten Nach-Leser auch..
Berlin im Rückblick, Himmelfahrtstag 2013
Unmittelbar nach dem gehaltenen Festvortrag „25 Jahre Altenburger Akademie“
Michael Wohlfarth

POLIS
PREDIGT zur Ökumenischen Fürbitte in der Brüderkirche
anlässlich der Konstituierung der Stadtverordnetenversammlung
der Stadt Altenburg nach den ersten freien Kommunalwahlen
in der Geschichte der DDR am 6. Mai 1990
Liebe Gemeinde, liebe Mandatsträger!
Es ist sicher ein gutes Zeichen und wird bestimmt gerade auch von den älteren Menschen in unserer Stadt, die jetzt so unsicher sind, weil die Zeit umbricht,
so verstanden, wenn Konstituierung (sich Zusammenfinden, in den Stand gehen)
von uns als eine Sache angesehen wird, in der wir uns vergewissern müssen:
wo kommen wir her, wo gehen wir hin, wer sind wir, ja auch, wer waren wir.
Was sind unsere Traditionen, was ist unsere Herkunft, wo liegt die Kraft dessen, was wir für wahr halten. Was wir glauben, was wir träumen auch, möchte ich mit sagen dürfen. Wo sind die Grundlagen, nachdem wir den Teppich weggezogen haben (oder ihn weggezogen bekamen), unter dem der Schmutz liegt. – Wir müssen innehalten. Wir werden uns besinnen müssen, damit wir ein wichtiges Stück Stadtgeschichte Altenburgs rückblickend verarbeiten und bewältigen lernen. Trauerarbeit ist angesagt. Gleichzeitig signalisiert dieser heutige Gottesdienst den Neubeginn – mit Gottes Hilfe. Wir wundern uns ja sowieso schon, dass wir soweit gekommen sind in den Wirren dieser geschichtsträchtigen Zeit. – Jesus spricht: „ Der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener.“ – Ich finde, das ist ein gutes Wort aus dem Evangelium . Es ist zu einer Gruppe, zu einer bestimmten Gruppe von Menschen gesprochen, die sich vorher mörderisch gezankt haben, wer von ihnen der Beste und der Größte sei. Aber die sich zusammentun. Was bleibt ihnen weiter übrig? Ein gutes Wort – und dazu ist das Evangelium sicher in die Welt gekommen durch Gottes Willen und gnädige Fügung -, das uns innehalten lassen kann, egal, welcher Gruppe, welcher Partei, welcher Koalition, welchem politischen Lager wir auch angehören mögen. Weil dieses Wort das Unterste zu oberst setzt, weil es uns in Erinnerung ruft, wozu wir alle da sind: zum Dienst. Am Allgemeinwohl, sicher. Der Dienstgedanke ist uns leider abhanden gekommen in all den Jahren. Die Freiheit zum Dienen vor allen Dingen. Ein großer Verlust. Es wurde hohl und hohler, korrupt und korrupter. – Dieses Wort relativiert und lässt die Jungen ebenso zu Wort kommen wie den Chef, den Diener ebenso wie den Herren… Es schafft Spannung, die man aushalten muß. Es entspannt, wo falsche Herrschaftsformen für Unterdrückung und Etiketten-schwindel gesorgt haben. Es macht gelassen. Es bringt Sachebenen zustande, wo Gefühle drohen überhand zu nehmen. Ein großer König in der deutschen Geschichte, die teilweise preußisch geschrieben wurde, hat gesagt: „Ich bin der erste Diener meines Staates“. Wenn er das demütig gemeint hat, ist das sicher etwas von dem, was wir nötig haben, und dann ist es sicher auch christlich und menschlich: beauftragt sein, emphatisch denken, Politik f ü r den anderen machen, nicht meinen Vorteil suchen, sondern der Stadt Bestes. Maßstab für gute Politik ist der Maßstab des Menschlichen. – Gott möge Ihnen beistehen, dem Auftrag Ihrer Wähler nach bestem Wissen und Gewissen gerecht zu werden zu unser aller Wohl, zum Wohl der Stadt, daß das Vornehmste wieder der uneigennützige Dienst ist und die Last der Verantwortung ebenso viele Kräfte des Tragens und Dienens freisetzt. – AMEN.

Friedliche Revolution ist Arbeit und Mut
Die Zeiten, als sich Arbeitsgruppen bei uns in der Brüderkirche in Altenburg trafen, um einen gesellschaftlichen Neuanfang zu wagen, sind m. E. noch lange nicht vorbei. Nur die Menschen sind andere, die Namen – nicht alle – die Ziele sind dieselben geblieben: Erneuerung! Nur die Formen sind vielleicht anders geworden, der Inhalt ist geblieben: Sehnsucht nach einer heilen Welt in einer kaputten Welt. Damals bildeten sich Arbeitsgruppen während der Friedens-gebete. Heute ist das auch noch so. Nur: das Friedensgebet ist unter dem Namen MITTAGSGEBET bekannt geworden. Und die Arbeitsgruppe könnte man nennen: Communität für den Tag, eine Initiative von Senioren für unsere Stadt. Es lohnt sich zu erinnern, um festzustellen: die Formen ändern sich vielleicht, nicht die Inhalte. Jedenfalls nicht die, auf die es ankommt in einem fruchtbaren Leben. Vielleicht meinen das die Juden wenn sie sagen, ERINNERUNG IST ERLÖSUNG. – Wenn ich mir die alten biblischen Geschichten anschaue, merke ich immer wieder, daß es nicht so viel anders ist, als damals, heute! Und ich nehme mich auch nicht mehr so wichtig in meinem Fortschritt, weil ich merke, die Liebe, die Hoffnung, der Glaube waren damals das tragende Lebensmotiv und sind es heute. Damals gab es Liebeskummer, Tod und Sehnsucht nach Vollendung. Und heute auch. Das geht mir nicht nur so mit der Bibel, sondern auch, wenn ich mir eine ausgegrabene Stadt anschaue. Alles da, vielleicht keine Autos. Das war es aber auch schon. So mein Eindruck. Geschichte ist gesund, um seinen Größenwahn aufgeben zu können. Das alles meint das Wort ERINNERN. Ein Sonntag, geneigter Leser und geneigte Leserin, hat für mich deshalb einen besonders schönen Namen. Er heißt REMINISCERE! Er fällt in die Zeit der Leidenschaften, der Passion, der Buße, der Auferstehung. ERINNERE DICH! – Wer sich nicht erinnern will, hat keine Geschichte und damit auch keine Werte für sein Leben, die ihn tragen! Wer sich nicht erinnern kann (nach einem Unfall: unzählige z. T. gute Filme handeln davon), ist schwer geschädigt. Wer eine Zukunft haben will, muß sich erinnern wollen und Gott danken, daß er es kann. Sicher auch das Geheimnis von „DRESDEN“ oder„So weit die Füße tragen“, falls Sie diese Filme gesehen haben. Erinnerung ist ERLÖSUNG? Ja, wir dürfen sogar GOTT daran erinnern, daß er uns Zukunft versprochen hat. Auch das ist ein Teil unserer Gebete im Christlichen Glauben. Und nicht nur sonntags. Einen gesegneten Sonntag mit guten Erinnerungen und Sammeln von Kräften für den Alltag morgen und übermorgen für Sie!
Merken sie, wie unheimlich aktuell die Wende ist. Vielleicht ist sie immer. Auch jetzt. Gerade jetzt. Schlafen Sie gut wegen dem Sonntag und trotz der Wahlen in Amerika. Oder sollten wir WACHEN und BETEN wie Jesus in Getsemani. Eins schließt das andere nicht aus. Im Gegenteil.Sie bedingen sich: Ruhen und wachen! Einen gesegneten Sonntag.
A DIEU
Tschüss(verkürzte Form von A DIEU)
Ihr
Michael Wohlfarth