Fjodor setzt sich zu mir ins Nachbarabteil und erzählt mir die Geschichte von den Unglücklichen. Von den Sündern und Heiligen. Er stellt sie mir vor: „Weißt du,da ist der Markt. Die buckligen Häuser ringsum. Die Läden, die aufgeklappt werden, sobald die Sonne aufgeht. Und da kommen sie, die Tagelöhner, die Tagediebe, die Betrunkenen am frühen Morgen, die nieschlafen können, weil sie ihr Gewissen plagt, die Weinenden, die ihre Familie nicht ernähren können, weil die Barmherzigkeit ausgestorben ist und die Gerechtigkeit Gottes auf sich warten lässt. Da ertönt ein Signal, alle wissen, er kommt persönlich. Der HERR.Das Warten hat sich gelohnt. Gestern kam niemand.Heute soll er wirklich kommen? Sie drängen sich, die Ausgemergelten, die Zerrütteten, die Greise, die Huren, die zu alt geworden sind, um sich zu verkaufen. Allerufen: „Herr, wir sind hier! Hilf uns!“ Aber der Herr verzieht. Scheinbar reitet er um die Stadt herum, um sich ein Bild zu machen, was die Wohlhabenden aus ihrer Stadt gemacht haben. Er gehört in gewisser Weiseja auch dazu.Jetzt kommt er wirklich ohne Signal. Reitet mitten auf den Markt und ruft: „Wer möchte in meinem Weinberg arbeiten?“ Alle sind erschrocken. Davon war nie die Rede. Arbeiten? Sie meinten, sie bekommen die Ration. Deswegen sind sie da. „Das muss eine Neuerung sein“, murmeln sie. Einige melden sich, aber nicht viele.Drei. Er nimmt sie mit. Er steigt ab von seinem Pferd und führt sie zur Stadt hinaus durch das südliche Tor zu den Bergen. Er hätte auch voraus reiten können, denn jeder wusste in dem Gebiet, wo der Weinberg des Herrn lag. Aber er ließ es sich nicht nehmen. Er hätte ja auch genauso gut einen Festangestellten, dem er einigermaßen vertraut, in die staubige Stadt schicken können. Brauchte er wirklich Arbeiter in seinem Weinberg?

Es waren auch wirklich Menschen auf dem Markt,die – wie Matrosen im Hafen – dort herumlungerten nach einer durch gezechten Nacht, um angeheuert zu werden. Aber Bettler auch, die sich nicht genügend bemüht hatten und auf Almosen hofften. Von den Dreien war ein Bettler, der es sich abgewöhnen wollte, als Lohnsklave zur Verfügung zu stehen. Aber irgend etwas an diesem Morgen, als die Sonne im Osten empor stieg, erinnerte ihn an ein Lied seiner Kindheit, welches seine Mutter sang, wenn sie zur Arbeit ging.“

Hier brach der Erzähler ab und schaute versonnen auf die vorbeifliegende Landschaft. Er ließ den Zuhörer allein im Abteil und verschwand. – Wohin? Ich weiß es nicht. Ins MITROPA-Abteil. Toilette. Gang. Fenster runter und Wind und den Fahrtwind ins Gesicht, weil es so schwül ist im Abteil, geht nicht! – Es ist ein INTERCITY. Viel zu schnell.

Das war damals, wenn wir von Ort zu Ort gefahren sind und unsere Freiheitdumpf war, in der wir lebten und voller Freude einem Ziel entgegen fuhren auf der Scheibe, die wir Erde nannten. Und unser Land, DDR. Zigaretten. Ach ja Zigaretten. Verqualmt alles. Tief eingezogen die Luft, die entgegen blies. Fenster ‚runter! Jetzt alles rauchfrei.

Du musst nicht zum Fenster stürzen.

Meistens klemmt es.

SONNTAG heißt Auferstehung. Auferstehung heißt WOSKRESSENIE

Wo ist Fjodor, der Erzähler? Er ist ausgestiegen.Es ist Sonntag. Er wollte plötzlich nicht weiter eine Geschichte erzählen, die jeder kennt, der es mit der göttlichen Gerechtigkeit, mit der Gnade undBarmherzigkeit zu tun bekommen hat. Wie er. Er war darauf angewiesen zu hören. Er hatte Glück, dass der Zug nicht durchgefahren ist und angehalten hat zwischen dem Westerwald und Hamburg, wo die großen Schiffe anlegen. Auch die nach Übersee. Er hatte Glück, dass der Bahnhof eine Bahnhofsmission hatte und einen Saal in der Nähe, wo die Heilsarmee zu Hause war und die Evangelien predigte. Der Gottesdienst hatte bereits begonnen, der Prediger hatte die Bibel aufgeschlagen und war in die Kanzel getreten:„Liebe Gemeinde, wir haben uns heute hier versammelt zum Sonntag Sechzig Tage vor Ostern. Das heißt auf lateinisch SEXAGESIMAE. Dieser Sonntag – wie schon der vorherige – kündigen einen Perspektivwechsel an, den wir alle dringend benötigen. Die Richtung heißt OSTERN. Ostern, das bewegliche Fest. Das in seinem Zeitpunkt sich nach der Stellung des Mondes zur Sonne richtet.- Liebe Brüder und Schwestern, wir haben uns heute hier versammelt, weil Sonntag auf russisch WOSKRESSENIJE heißt, zurückübersetzt ins Deutsche: AUFERSTEHUNG. JEDER SONNTAG

HEISST AUFERSTEHUNG.

Sie haben das Gleichnis vom vierfachen Acker gehört und jeder von uns fragt sich, wer bin ich? Bin ich der Weg? Sind wir die Dornen? Wer ist der Fels? Und wer das gute Land. Wir wollen alle das gute Land sein, das Frucht bringt. Oder etwa nicht? Aber alle denken an die Sorgen. Die Großen und die Kleinen. Lasst uns Gott bitten, dass die Sorgen nicht unseren Glauben ersticken und dass die Begeisterung für das Gute anhält und der Regen nicht alles, waswir gehört haben wegspült. AMEN.“

Eine sehr kurze Heilsarmeepredigt. dachte F. … Aber okay. Es wurde noch ein Lied gesungen und dann löste sich die Versammlung auf. Ah – die russischenChöre! Wo sind sie? Sonntag. AUFERSTEHUNG? Der Westen ist so kurz angebunden. Na ja….Er nahm sich ein Hotelzimmer in der Nähe des Bahnhofes.

Was soll nun aus Anne werden?

Ganz einfach. Sie geht auf ein Schiff. Im Hafen liegen welche. Genügend Große und Kleinere. Sie muss mit den Leuten ins Gespräch kommen, damit sie mitgenommen wird als ermäßigt. So viel Geld hat sie nicht mit bekommen von zu Hause. Sie wird sich in eine Kneipe setzen. In so eine Hafenkneipe in Hamburg und sehen, was sich machen lässt.

Es lässt sich eigentlich gar nichts machen.

Die romantischen Zeiten sind vorbei. Also nimmt sie ihr Handy und ruft bei der nächstbesten Reederei an, um zu erfahren wie das heute so geht. Vorschläge. Angepasst ihren finanziellen Eckwerten. Ihrem Chip. Sie sagen ihr, ab wann sie sich einzufinden hätte in einem Reisebüro der und der Reederei. Unterkategorie der Großen Reederei. Der Übergeordneten. – Nächste Woche. So schnell geht es nicht. Aber nächste Woche gibt es die Möglichkeit mit einem Schiff nach Amerika zu kommen. Auf einem Tanker oder Containerschiff als Mamsell, die den Matrosen das Essen ausgibt in der Kombüse. Wenn sie es so macht, muss sie gar nichts bezahlen. Im Gegenteil, sie bekommt etwas für Amerika. Sie verdingt sich. Sie hat Zeit. Viel Zeit. Sie wird erst nach Weihnachten, im Frühjahr anfangen, Germanistik in Amerika zu studieren. Wenn sie es schafft, alte Verbindungen wieder aufzunehmen.

Gut, dass sie ein Handy hat. Sie wird immer das Gefühl haben, in der großen weiten Welt zu Hause zu sein. Zumindest nicht unterzugehen. Bildlich gesprochen. Gut, dass die Finnen das Handy erfunden haben, als die Sowjets keine Gummistiefel mehr brauchten in ihren Kolchosen. Gut für die Finnen. Gut für die Russen? Gut für alle anderen in der globalisierten Welt nach dem Fall der Mauer in Berlin und dem Schleifen der Zäune in Ungarn und überall…Der zivile Krieg. Der Kalte ist vorüber. Jeder gegen jeden. Der Globus quietscht und eiert. Das Gerede vom Globus und vom Globalisieren und EINE WELT.

Na ja.-Die Großmutter hat auch ein Handy. Ihre Freundin auch in Hamburg.„Hallo Großmutter, wie geht es dir?“„Bestens, mein Kind!“ – Pause.„Und dir?“ – Pause. Lange Pause.„Ich hatte interessante Zugbekanntschaften. Einen Zugbegleiter, der Geschichten erzählte. Sehr eigentümliche Geschichten. Von einem Weinberg und den Arbeitern dort im Süden, am Mittelmeer.“„Die biblische Geschichte vom Weinberg?“„Ja, genau die.- Er hat es auch nicht verschwiegen.“„Heutzutage ist ja wieder alles möglich. Vielleicht liegt das an den Türken. Die zeigen ja auch, was sie glauben. Und die Amerikaner, mein Kind, sollen auch so sein. Es bleibt ihnen ja auch gar nichts anderes übrig, mein Kind, wenn sie so viele Nationen bei sich aufnehmen mit und jeder einen anderen Glauben hat als der andere.“

Lange Pause.-„Nicht etwa keinen, wie bei uns.“

Lange Pause.-„Aber er ist nicht aufdringlich geworden oder so etwas in der Art. Es war ein sehr angenehmer Mann. Wie in den alten Büchern, die du in der zweiten Reihe zu stehen hast.“-„Was hast du denn noch erlebt?“ „Ich fahre erst in einer Woche übers Meer nach Amerika.“ „Aha!“ „Ja, ich kann bei einer Freundin übernachten und schau mich noch in Hamburg um.“ „Na, gut.”

“Ich melde mich wieder.“

Anne stand auf der Brücke in Hamburg, auf der sich sonst Liebespaare treffen. Ob sie Schlösser für ihre ewige Treue anschließen wie anderswo, wusste sie nicht. Aber sie hat davon gelesen, von einer Brücke in Köln. Brücken gibt es viele auf der Welt und noch mehr Treffpunkte für Liebespaare. Berühmte und weniger berühmte. Brücken über das Wasser. Manchmal über sehr großes Wasser wie in Holland. Über sehr klares Wasser und sehr schwarze Strudel! Über reißende Flüsse und Abgründe in fernen Ländern, über Gleiskörper der Deutschen Bahn und anderer Bahnen auf der Welt. Früher hießen sie im Osten Deutschlands Reichsbahnbrücken, in der DDR. Und auch im 3. Reich und vorher.

Auf Leben oder Tod wie in den Sonetten.Wie zwischen Potsdam und Westberlin –

Glienicke. Agenten werden ausgetauscht. Kameras sind nicht erwünscht. Check Point – Charlie – nein das ist keine Brücke, sondern ein Übergang. Manchmal ist auch eine Brücke ein Übergang. Ein Punkt. Ein Wendepunkt? Nein. – Doch. Es ist ein Nadelöhr. Wo kein Kamel durchkommt in Jerusalem und anderswo.Das Wasser ist viel zu tief. Wenn jemand die Nordsee als Brücke verstehen wollte. Sie ist es, ja! Zwischen den Völkern, weil die Menschen Schiffe gebaut haben. Den Wind ausgenutzt. Die Ebbe berechnet und die Flut. Und alle Faktoren zusammen gerechnet…..Na, bitte! Wind, Segel, das weite Meer und das Land dort drüben. Ja, aber wenn du meinst: Die Ostsee! Was ist das schon! Ein Binnenmeer. Keine Ebbe, keine Flut. Und du hast kein Segelschiff, wo du den Wind nutzen kannst und die Flut. Und auch keinen Motor, weil der gehört wird, sondern nur ein Schlauchboot. Das geht noch? Vielleicht.

Oder nur deinen Übermut.

Die schreckliche Selbstüberschätzung.

Das nackte Leben.

Jetzt unter den Scheinwerfern durch.

Glück gehabt.

DIE SUCHSCHEINWERFER.

JA, DIE SUCHSCHEINWERFER

DER NATIONALEN VOLKSARMEE, die uns bewachen.

Niemandsland.- Endlich Fischer aus Dänemark, die nicht schlafen am Morgen, sondern dich sehen, wie du kämpfst mit letzter Kraft, um in die Freiheit zu gelangen. Grenzerfahrung, Gotteserfahrung. Todesangst.

Ja, Freiheit.

Aus ACH DOSTOJEWSKI (Haag und Herchen)

Das Buch beinhaltet fingierte Gespräche mit Dostojewski, einen gemeinsamen Theaterbesuch. Die Erfindung einer Geschichte für die 3. Generation, die auf einem Segelschulschiff vor Irland stoppt und dann weiter geführt wird in dem Roman AMERICA (epubli) und DER GRÜNE SALON (epubli) und noch andauert als DANACH (in Arbeit).

Die zitierten Gleichnisse: Matthäus 20 1-16, Matthäus 13 1-9.

Gebet: Herr schenke uns die Geduld, die wir brauchen, damit wir die Wunder Deiner Werke begreifen können und so Deine Geburt, Dein Kreuz und Deine Auferstehung feiern können in den schönen Gottesdiensten des HERRN.

„Meinen Frieden gebe ich Euch“, hast Du gesagt. Gib, dass wir ihn benutzen zum Wohl unserer Nachbarn, in unseren Familien, dort, wo du uns hingestellt hast. In Arbeit und Beruf. In allen unseren Mühen in dieser Zeit. AMEN

Veröffentlicht von famwohlfarthtonlinede

Jahrgang 44 Lieblingsbeschäftigung:Schreiben und Predigen.Sehnsuchtsort Ostsee. Wohnort Berlin, Heimat Thüringen. Wenn Du mir schreiben willst, bitte über michael.wohlfarth@t-online.de; https://kaparkona.blog; michael-wohlfarth.jimdo.com; michaelwohlfarth.wordpress.com

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