In Deutschland, haben sie sich vorgenommen, werden sie gewisse Dinge aus Amerika nicht vergessen oder der Anpassung unterwerfen. Es wird ihnen erst hier klar werden, wenn sie an Land gegangen sind – wie aus einer Arche, wer und was sie eigentlich zusammengebracht hat. Nicht eine augenblickliche Idee, oder eine große Not, ein zufälliges Treffen bei einem Fußballspiel oder in der Pause während eines Theaterbesuches als sie plötzlich beide ein Glas Sekt in der Hand hielten und gar nicht anders konnten als anzustoßen und zu sagen: „Na denn.“ Zusammenbringen ist das falsche Wort. Zusammenhalten ist schon besser. „Was sie gehalten hat“ – am besten.
Trotz aller Ausflüchte und Versuchungen sich in Wohlstand und Glück einander aufzugeben und das Weite zu suchen. Die Einsamkeit auszuloten als Existenzgrundform der Post–Moderne.
Ja, was hat sie zusammengehalten? Der Glaube?
Die Grundform aller Bedürftigkeit nach Gott und dem Heiland der Welt. Damit wir froh werden und bleiben können.
Wo ist ihnen der Glaube geschenkt worden.
Oder genauso gut: bewusst geworden – eine Gottesgabe zu besitzen.
In der Baptist Church. Nebenan in der großen Stadt New York.
Das werden sie nicht vergessen, wenn sie deutschen Boden betreten und die Mutter von Oliver am Kai steht und winkt. Henry, der Amerikaner aus Magdeburg und seine Frau werden ihnen helfen.
Wenn sie die Welt nicht verstehen, werden sie ihn anrufen.
Aber jetzt ist erst einmal die Überfahrt. Oliver und Anne und das Meer und Sophie. Sie wird sich wundern, wenn die Schiffsfahrt zu Ende gegangen ist und die Freiheitsstatue nicht winkt und Amerika nicht der Strand heißt, sondern ein Land, welches sie nicht kennt.
Gut, dass sie nicht die Einzigen sind, die Kinder mitgebracht haben, so dass sie zusammen spielen können auf dem riesigen Deck, wenn die Sonne glänzt über den Wassern. Und die Gischt eine Schönheit ohne Schrecken ist.
Das sind die Eindrücke, die gesund werden lassen an Leib, Seele und Geist.
21
Er erzählt seiner Frau an einem sonnigen Nachmittag auf Deck, dass er ein Tagebuch gefunden hat.
Sie: „Ein Tagebuch?“
Er: „Ja, ein Tagebuch.“
„Kannst du mir das zeigen?“
„Ja, sicher… aber ich habe es nicht bei mir – so etwas kann man nicht einfach mit sich herumtragen auf solch einem Schiff. Dann kommt der Sturm und weht es mir aus der Hand. Und es ist nicht einmal meins, sondern das eines russischen Soldaten, der kämpft auf russischer Seite in dem gegenwärtigen Krieg… weswegen wir ja auch Amerika verlassen um uns zu vergewissern: Deutschland ist unsere Heimat. Oder?“
„Eben.“
„Hast du es gelesen?“
„Ich traue mir das nicht“. Schweigen.
Nur das Plätschern, dass sie nun schon wochenlang begleitet um zur Ruhe zu kommen.
Dann sie, die Mutter, die voll in der Verantwortung steht, sonst hätte sie ihren Mann ja nicht zurück geholt aus dem Dickicht der Selbstfindung, der literarischen Exposees und Kostproben, veranstaltet von einem gutgelaunten Prekariat, welches sich in den Dienst der Nation stellen wollte nach dem Motto: Wir dürfen es uns von der Seele schreiben. Dann geht es uns besser und dem Volk auch. Und sie kommen auf keine dummen Gedanken.
Alles in dem Grünen Salon.
Also sie:
„Ich glaube, wir müssten das melden, damit der Besitzer sich melden kann nach einer entsprechenden Bekanntmachung“.
„Ich wollte genau darüber mit dir sprechen.“
„Ja, dann tu das. Und dann werden wir weitersehen. Ob der Tagebuchschreiben sich dazu bekennt. Ich bin schon neugierig in diesen Zeiten… Und russischer Soldat? Hier mitten auf dem Ozean zwischen den Welten.
Das Kind spielt wie die Weisheit auf den blank gescheuerten Dielen.
22
Eine Traube in der Nähe der Theke im großen Saal der Gesellschaft vor einem Aushang. Was erregt die Neugier der Reisenden? Ein Aufruf wie zu Zeiten der Revolution in ziemlich großen Buchstaben.
TAGEBUCH GEFUNDEN VON EINEM RUSSISCHEN SOLDATEN! DER BESITZER MÖGE SICH BEI :::::::::::::::::::::: MELDEN HANDYNUMMER :::::::::::::::::::: ODER BEI DER LEITUNG DES SCHIFFES!
KULTUR UND ORGANISATION „PAX AMERIKA“ ES LEBEN DIE NATO UND
IHRE FRIEDLIEBENDE VERTEIDIGUNG DER FREIHEIT UND DER DEMOKRATIE.
UNTERSCHRIFT
::::::::::::::::::::::::::::
Ein Getuschel und Gewispere in allen möglichen Sprachen, fast wie das Rauschen des Meeres. „Gut, dass kein Sturm ist, sonst hätten wir ganz andere Sorgen,“ sagt eine Dame im Rollkragenpullover. Alle drehen sich nach ihr um. Und schauen sie mit giftigen Blicken von oben bis unten an.
Auch die Männer.
Gerade die.
23
Es hat sich niemand gemeldet auf den Aushang hin. Oliver liest sich fest in dem Tagebuch, welches er gefunden hat. In einem Schiffswinkel.
Der geübte Agentenblick hat es entdeckt.
Jetzt hockt er in seiner Kabine neben der Kabine von Anne und ihrem Kindchen Sophie.
Aus dem Tagebuch:
Im Februar 2022 rücken russische Truppen vor bis an die Grenze Kiews. Biden fragt an, ob er einen Hubschrauber schicken soll, um Selenskyi zu evakuieren – und seine Familie.
Selenskyi lehnt empört ab und will kämpfen.
Die Ukraine ist ein selbständiger Staat und der Angriffskrieg Russlands ist in keinster Weise gedeckt durch das Völkerrecht. Im Gegenteil: weite Kreise der politischen Klasse werden fordern, dass Putin vor dem Internationalen Gerichtshof erscheinen muss. Allen voran Selenskyi, der gewählte Präsident der ukrainischen Republik.
Angeblich gibt es Verhandlungen in Istanbul bei den herausgekommen sein soll: ein Verhandlungsfrieden.
Der Vormarsch wird gestoppt und Kiew ist vorläufig außer Gefahr. Die Bilder von Butscha gehen um die Welt und alle schlimmen Dinge russischer Kriegsführung fallen den Kindern der Soldaten im Zweiten Weltkrieg wieder ein. Wenn man sie nicht davor bewahrt hat.
Aber das war wohl gar nicht möglich.
Aus dem ethnischen Konflikt wird ein antikommunistischer Konflikt heraufbeschworen. Das ist sträflich und vollkommen unangemessen.
Als Bürgerrechtler sage ich NEIN dazu. Das ist eine Fälschung. Europa muss das wissen. Den Amerikanern kann man es kaum übelnehmen. Sie kommen von der Freikirche her und es gäbe sie ohne die Große Erweckungsbewegung im 18. Jahrhundert überhaupt nicht.
Pax america.
Pax sowjetica.
Die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Amerika gibt es noch.
Wird Amerika seiner Verantwortung als Supermacht gerecht? Nein.
Als Ordnungsmacht? Nein.
Die religiöse Komponente in dem Konflikt Ukraine/Russland wird ausgeblendet. Beziehungsweise – und das ist noch viel schlimmer – sie muss ausgeblendet bleiben, weil der säkularisierte Westen so stolz auf seine Trennung von Staat und Kirche ist, dass er v e r – blendet ist und nicht mehr in der Lage ist, die andere Seite zu sehen. Wer keine Religion hatte, konnte Russland nie verstehen. Das ist ein Unglück für die Beziehungen des wiedervereinigten Deutschlands zum größten Land der Erde. Vor allen Dingen paradoxerweise für den Osten des Landes/DDR mit ihrem diktierten Atheismus – selbstredend hervorgegangen aus der Diktatur des Proletariats. Lebensgefährlich: das alles zu vergessen. Und sich rückhaltlos einer Macht anzuschließen, die überhaupt nicht von europäischen geschweige deutschen Interessen ausgeht.
Es ist wie mit den muslimischen Flüchtlingen.
Helfen können nur die, die selber wissen was Glaube bedeutet. Sonst gibt es kein Verstehen.
Nur Politik.
Und Politik ist Geld.
Das kann gute Politik sein und schlechte.
Ich zitiere die TAZ: Putin will kein Weltreich zurück. Er möchte einen Nationalstaat. Ich finde, dass ist sein gutes Recht. Dann erst kann man sehen, so aber geht es nicht. Damit es aber so nicht geht, hätte vor dem Einmarsch gehandelt werden müssen.
Verantwortungsbewusst ohne machtpolitische Hintergedanken. Das ist nicht geschehen.
Mitleidlos.
Die Vorgeschichte wird ausgeblendet. Der Bundestag wird ausgeblendet.
Wie froh wir waren, dass niemand Atomwaffen bekommt, der sie nicht bekommen darf. Wir waren froh, dass jemand sich darum gekümmert hat.
Der Westen hat versagt in Folge, wie in SUEZ – ÄGYPTEN. Wie in Ungarn.
Wie in Deutschland 1953 am 17. Juni. Um des Friedens willen.
Und jetzt?
Sie wissen nichts vom heiligen Russland. Hoffentlich haben sie wenigstens Rilke gelesen und Barlach angeschaut.
Und Tolstoi?
Sie haben die Ökumene außer Kraft gesetzt, wo es gerade auf sie ankäme.
Gott sei Dank hat im Ökumenischen Weltrat niemand auf die Stimmen gehört, die forderten, die ROK auszuschließen.
„Kyrill ist vom Teufel“.
„Er muss ausgeschlossen werden.“ Feige (Bischof in Magdeburg) sagt: Kyrill kann gar nicht anders, weil es um das Heilige Russland geht. Dafür fühlt er sich verantwortlich.
Die Orthodoxe Kirche betet sogar für den Teufel, den gefallenen Engel.
Verstehe ich auch nicht auf Anhieb, aber macht mich nachdenklich wegen unsres Fausts, dem Himmelssaal, wo er auftritt, der Versucher, der Diabolus, der Durcheinanderbringer und Mephisto wird auf Erden.
HA SATAN.
Ich sah den Satan vom Himmel fallen.
Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.
Schonung. Verschont bleiben. Nicht hundertfältig vergewaltigt worden sein von ganzen Kompanien, die mit Heißhunger nach Todesangst und der Gier zu leben sich auf jede Frau stürzten wie auf den Feind, um ihn zu vernichten. Wie schön ein Bild von einem Westberliner Filmmann, das eine junge Frau zeigt, die vorübergeht. Ein Spalier sitzender fröhlicher Soldaten in sowjetischer Uniform. Worauf sitzen sie? Auf den Trümmerresten mitten im zerstörten Berlin. Charmant. Ein schönes Bild.
Und Butscha? Der Zweiten Weltkrieg? Der Sieg? Das Hissen der Fahnen? T-34. Unbesiegbar. Kalaschnikow.
Ostpreußen. Die Nackte, die ans Kreuz genagelt wird. An das Scheunentor.
Im Kleingarten in Berlin.
Dann sterben sie.
Leichtsinn, nicht zu wissen, mit wem man es zu tun hat.
Mit dem Tier in uns immer.
24
Anne schüttelte sich, nachdem sie auch die fliegenden Blätter überflogen hatte, die OLIVER seiner Frau weiter gegeben hat mit der Bemerkung: „Schau doch einmal hinein, damit du dich an die alte Welt gewöhnst.“
Er hatte es nicht ausgehalten und an ihre Kabinentür geklopft auf die Gefahr hin, dass Sophie schläft und Anne zornig wird, wenn sie wach wird durch sein Klopfen. Aber hier ging es ja auch um die Zukunft von Sophie.
Sie kam in seine Kabine, um zu lesen.
Oliver ließ sie in Ruhe und ging in Annes Kabine.
„Wie wird es werden“- fragt sie sich in der Kabine, als ihr klar wird, dass die Welt nicht nur aus den Vereinigten Staaten besteht, auf die sie sich so gefreut hatte und dort Oliver kennen gelernt hat , ihren Mann und mit ihm zusammen eine Familie gegründet hat im Vertrauen auf ihre innere Stimme und im Gespräch mit ihrer Familie zu Hause und mit der baptistischen schwarzen Gemeinde, wo sie und Oliver sprechen gelernt haben über Glauben, Liebe und Hoffnung. Und dass sie überhaupt einen haben: GLAUBEN. Und Liebe, viel Liebe.
Sie musste nach oben, das Meer sehen, den Himmel, die Sterne.
Es war längst dunkel über dem Meer und ein leiser Nachtwind machte deutlich, dass wir auf einer Erde leben. Ob in Russland oder Amerika, Deutschland oder Indien, China oder Afrika. Südpol. Nordpol, Australien.
Sie geht die Schiffstreppe unruhig hinunter.
„Wie wird es werden“- fragt sie sich wieder und immer wieder in der Kabine ihres Mannes – als ob er es hören sollte.
Ausschnitt aus dem Buch DANACH, erhältlich bei Michael Wohlfarth mail:michael.wohlfarth@t-omline.de
Bild, englischer Maler in Altenburg
DANACH UND SEINE VORLÄUFER: Ach Dostojewski; America; Der Grüne Salon. In allen Buchhandlungen.